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Die erste virtuelle AgrarDebatte thematisierte die Krisenfestigkeit von Ernährungssystemen aus unterschiedlichen agrarökonomischen Perspektiven. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden Stimmen für eine verstärkte heimische landwirtschaftliche Produktion laut, um besser für mögliche Lebensmittelknappheiten gewappnet zu sein. Doch was sagt die Wissenschaft? Sind es regionale oder globale Wertschöpfungsketten, die resilienter sind? Welche Erkenntnisse konnten aus der Corona-Pandemie gewonnen werden?

Wer am 16. Juni nicht dabei sein konnte, hat nun hier die Möglichkeit die Stellungnahmen der drei Diskutanten nachzulesen als auch die komplette Debatte noch einmal zu verfolgen.

Die Kommentarfunktion lädt zudem dazu ein, die angefangene Diskussion im Webinar an dieser Stelle fortzuführen. Hierfür finden Sie die aufgekommenen Fragen als auch Teile der Antworten aus Zoom weiter unten.

https://youtu.be/39HrduuSfjI

Prof. Dr. Achim Spiller, Marketing für Lebensmittel & Agrarprodukte, Universität Göttingen

In einer in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildung und regionale Verteilung repräsentativen Online-Befragung der Bevölkerung in Deutschland haben wir im April 2020 947 Verbraucher*innen zu Einkaufs-, Ernährungs- und Kochverhalten sowie zur Risikowahrnehmung und Krisenfestigkeit des Ernährungssystems befragt. Es zeigte sich u. a. eine starke Unterstützung der Bevölkerung für einen hohen nationalen Selbstversorgungsgrad bei Nahrungsmitteln. Die Befragten stimmen relativ deutlich zu, dass die wesentlichen Grundnahrungsmittel bzw. Mindestmengen an Nahrungsmitteln in Deutschland produziert werden sollten. Regionale Produktionsstrukturen für Lebensmittel werden krisenfester als globale Strukturen eingeschätzt. Was ist von dieser Einschätzung der Bevölkerung zu halten?

In Deutschland wird Regionalität bisher vornehmlich aus Nachhaltigkeits- und Vertrauensgründen gefordert. Jetzt kommt ein neues Argument hinzu, was diese Forderung verstärkt. In wie weit ein regionales/ nationales Ernährungssystem tatsächlich in Pandemie-Situationen krisensicherer als globale Systeme ist, wird erstaunlich wenig erforscht. Punkte, die dabei zu diskutieren sind:

  • Vorteile bei Grenzschließungen und geringere Transportintensitäten und kürzere Versorgungsketten.
  • Möglicherweise höhere Diversifizierung der produzierenden Betriebe in einer Region.
  • Aber: Internationale Handelsstrukturen bieten Ausweichmöglichkeiten, wenn es zu lokalen Hotspots von Infektionen kommt.

Die Gesellschaft hat mit Covid-19 einen nachdrücklichen Hinweis erhalten, dass ungünstige Pandemie-Szenarien für die Lebensmittelversorgung keineswegs hypothetisch bleiben. Dass es in dieser ersten Welle der Pandemie bisher einigermaßen gut lief, ist der grundsätzlichen Arbeitsfähigkeit des Personals in versorgungskritischen Bereichen zu verdanken. Als Hauptschwachstelle haben sich bisher arbeitsintensive Produktionsschritte im Niedriglohnsektor erwiesen. Eine Pandemie mit noch höherer Mortalität/ Infektiosität könnte verheerend wirken. Im Hinblick auf Krisenresilienz kommt es u. a. auf eine geschickte Verknüpfung regionaler und internationaler Module sowie auf Krisenvorsorge des Staates und in den Haushalten selber an.

Unsere Studie zeigt allerdings auch die große Globalisierungsskepsis bei Lebensmittel, die Marketingvorteile bietet, aber auch protektionistisch ausgenutzt werden kann.

Leseempfehlungen:

  1. Busch et al. (2020): Einkaufs- und Ernährungsverhalten sowie Resilienz des Ernährungssystems aus Sicht der Bevölkerung: Ergebnisse einer Studie während der Corona-Pandemie im April 2020
  2. Huff et al. (2015) How resilient is the United States’ food system to pandemics? J. Environ. Stud. Sci. 5, 337–347.

Prof. Dr. Bernhard Brümmer, Landwirtschaftliche Marktlehre, Universität Göttingen

Covid-19 hat auch in Deutschland zu einer Diskussion über die Krisenfestigkeit unserer Ernährungssysteme geführt. Dabei findet der Gedanke, dass ein regionales Ernährungssystem krisenfester sei als ein globales, mehrheitlich Zustimmung in der Bevölkerung. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Integration auch der Märkte für Agrar- und Ernährungsgüter in den internationalen Handel nicht nur Wohlfahrtsgewinne mit sich bringt, sondern auch eine größere Widerstandsfähigkeit gegen Schocks mit sich bringt. Das ist offensichtlich bei lokalen Schocks wie Missernten – die negativen Folgen verteilen sich breiter. Aber auch bei einem globalen Schock wie Covid-19 hat sich der internationale Handel zumindest bisher als funktionierender Puffer gegen die regional unterschiedlichen Wirkungen der Pandemie erwiesen. Zu Anfang der Krise waren, vor allem auf dem asiatischen Reismarkt, zwar einige Unterbrechungen der Lieferketten zu beobachten, z.B. durch Exportbeschränkungen bei großen Reisexporteuren. Hier hat die nationale Politik der Versuchung nachgegeben, wahrgenommene nationale Bedürfnisse durch Abkopplung vom internationalen Handel zu befriedigen – viel stärker war das ja im Bereich der medizinischen Schutzausrüstung (auch in Deutschland) zu beobachten. Ähnliche Reflexe gab es auch bei der letzten globalen Rezession 2007/08, aber man scheint aus den schlechten Erfahrungen gelernt zu haben: Mittlerweile sind die meisten Exportbeschränkungen im Agrarbereich wieder entschärft.

Ein weiterer Vorteil von global aufgestellten Ernährungssystemen, der oft nicht sehr präsent in der öffentlichen Diskussion ist, ist der intraindustrielle Handel, der mittlerweile auch bei Nahrungsmitteln innerhalb Europas deutlich dominant ist. Man versteht darunter den Handel von Gütern derselben Produktkategorie in beide Richtungen, es wird also gleichzeitig exportiert und importiert. Dies ermöglicht auf Konsumseite eine viel breitere Auswahl von differenzierten Produkten, und auf Produktionsseite den Zugang zu einem größeren Absatzmarkt. Diese Art des Handels ist nur in globalisierten Ernährungssystemen machbar; eine Regionalisierung durch die Einführung von künstlichen Handelsbeschränkungen würde diese Vorteile zunichtemachen.

Globale Ernährungssysteme sind also gelebte Verantwortung; eine politisch erzwungene Regionalisierung des Handels würde die Welt ärmer machen und so gut wie keinen Beitrag zu den dringenden Problemen der Ernährungssysteme wie Biodiversitätsverluste oder Klimawandelfolgen leisten. Für die Funktion auch internationaler Lieferketten erscheint es wichtiger, wieder größeres Augenmerk auf eine verbesserte Funktion des multilateralen Handelssystems, vor allem der WTO, zu richten.

Leseempfehlungen:

  1. Zu Wirkungen von Exportbeschränkungen: Estrades, C., Flores, M., & Lezama, G. (2017). The role of export restrictions in agricultural trade. IATRC Commissioned Paper No. 20. IATRC Commissioned Paper Series
  2. Zur drohenden Schwächung des multilateralen Handelssystems: Kerr, WA. The COVID‐19 pandemic and agriculture: Short‐ and long‐run implications for international trade relations. Can J Agr Econ. 2020; 1– 5.

Prof. Dr. Matin Qaim, Welternährungswirtschaft und Rurale Entwicklung, Universität Göttingen

Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf die Ernährungssysteme. Die Zahl der hungernden Menschen könnte in den kommenden Monaten deutlich weiter ansteigen. Das liegt zum einen an Schocks auf der Angebotsseite, weil es zu Störungen in den Lieferketten kommt. Vor allem in den Entwicklungsländern, wo viele Menschen arm sind und es kaum soziale Absicherung gibt, werden aber Schocks auf der Nachfrageseite durch die Pandemie vermutlich noch schlimmere Ernährungsfolgen haben. Lockdowns verhindern vor allem informell Beschäftigte daran, ein Einkommen zu generieren, und der Wegfall des Einkommens ohne Ersparnisse führt zu Hunger mit schwerwiegenden Gesundheitsfolgen, unter anderem auch größere Sterblichkeit durch COVID-19 und andere Infektionskrankheiten.

Wären regionale Lieferketten die Lösung? An den nachfrageseitigen Schocks würde eine Regionalisierung nichts ändern, das ist zunächst wichtig festzuhalten. Aber für die Angebotsseite klingt Regionalisierung vielleicht plausibel, weil globale Lieferketten durch pandemiebedingte Grenzschließungen und Handelsrestriktionen stärker betroffen sein könnten als regionale Lieferketten. Allerdings sind regionale Lieferketten in der Regel kleiner strukturiert, mit kleineren Erzeugern, Verarbeitern, Händlern und Verkäufern, die alle von Lockdown- und Hygienemaßnahmen mindestens ebenso betroffen sind wie größere Unternehmen, vielleicht sogar stärker. Das zeigt sich auch in Entwicklungsländern. Während Lieferketten mit regionalen Anbietern und informellen, wenig mechanisierten Verarbeitungs- und Vermarktungskanälen in Lockdown-Zeiten stärkere Probleme mit der Belieferung haben, können größere und globaler aufgestellte Supermarktketten die Kunden durchgängig versorgen und genießen vor dem Hintergrund von Hygienebedenken auch größeres Kundenvertrauen.

Bei der Frage der Krisenfestigkeit müssen wir außerdem im Blick behalten, dass Länder sich auf unterschiedliche Arten von Krisen einstellen müssen. Neben Pandemien gibt es klimawandelbedingt mehr Wetterextreme, die vor allem regional auftreten, so dass regionale Ernährungssysteme – ohne internationalen Handel – anfälliger für Preiskrisen und Hungernöte sind.

Mein Plädoyer für weitere Globalisierung bedeutet nicht, dass regionale Lieferketten keine Bedeutung haben, aber sie sollten nicht als Antwort auf Krisensituationen, nicht als Ersatz für globale Lieferketten und schon gar nicht als Paradigma für mehr Nachhaltigkeit verstanden werden. Lieferketten sollten möglichst divers sein, das ist die beste Strategie für Nachhaltigkeit und Resilienz.

Leseempfehlungen:

  1. UN Policy Brief: The Impact of COVID-19 on Food Security and Nutrition
  2. IFPRI Blogs on COVID-19 and Food Systems

Fragen & Antworten aus dem Webinar:

Prof. Brümmer hat als einen Indikator für lange Lieferketten die Anzahl der Grenzen, die überquert werden müssen, angesprochen. Ist nicht die Anzahl der beteiligten Akteure ebenfalls ausschlaggebend? Sobald einer der Akteure durch gesetzliche Einschränkung, Erkrankung oder Mangel an Arbeitskräften ausfällt, ist die Kette unterbrochen und je mehr Schnittstellen es gibt, desto potentiell anfälliger?

Antwort von Prof. Brümmer:

… da stimme ich völlig zu. Das ist ein weiterer Aspekt, der aber auch wiederum für den Langstreckentransport via Schiff spricht.
Felicitas Schneider
Wenn – gemessen am Wert – ähnlich viel Käse importiert wie exportiert wird, heißt das wirklich, dass wir auf den internationalen Handel „angewiesen“ sind?

Antwort von Prof. Brümmer:

… so lange wir unsere Konsumgewohnheiten beibehalten wollen, ja. Wenn wir alle denselben Nutzen aus deutschem Gouda (ist das schon ein Widerspruch an sich?) wie aus einer reichhaltigen Palette an verschiedenen Käsesorten ziehen, dann wäre das ohne negative Wohlfahrtswirkungen denkbar — ich halte das aber für unwahrscheinlich.
Wiebke Nowack
Tag. Ich heiße Disha. Ich bin aus Indien. Meine Frage an Herrn Spiller –  Wie koennen die Forschungsleiter eine enge Vernetzung, die mit dem existierenden Grenzsystem verbreitet ermoeglichen? Gibt es soziologische Verbindungen zwischen dem gesellschaftlichen Diversität und technologischer Vernetzung? Disha Palkar
Welche Auswirkungen hat die Kriese auf Lebensmittelpreise Gobal und National? Ist im Zuge der Mehrwertsteuersenkung mit einem Kreiskampf im LEH zu rechnen?

-> Frage wurde live beantwortet, siehe YouTube – Video.
Wilken Oelkers
Wie werden sich nach Einschätzung der Referenten die Erfahrungen aus der Covid 19 Krise im künftigen EU-Agrarhaushalt niederschlagen?

-> Frage wurde live beantwortet, siehe YouTube – Video.
Henning von der Ohe
Kann die Deutsche Regierung die wirtschaftliche Lage von dem Land durch schutzfähigen Arbeitsbedingungen für die Klassen wie Bauer usw. verbessern? Disha Palkar
Ist es nicht auch Teil des Problems der mangelnden Akzeptanz für internationalen Handel, dass viele Menschen aufgrund von mangelndem Wissen die Vorteile der Globalisierung nicht komplett verstehen? Jakob Dehoust 
Frage an Herrn Qaim. Was halten Sie von den Auswirkungen der Koronakrise ueber die Laender wie Indien? Disha Palkar
YouTube fragt: In Anlehnung an die Frage von Frau Wunder: Können globale Ernährungssysteme nicht resilienter und nachhaltiger sein, wenn man sich multilateral auf gute/ hohe Standards und Anforderungen einigt? Lena Kaatz
1. Wir sollten die Kriterien für eine Beurteilung der regionalen versus globalen Lieferketten vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit differenziert betrachten:
a) Nachhaltigkeit in Nicht-Krisenzeiten
b) Nachhaltigkeit/Prävention in/für  Krisenzeiten
Die Bewertungen im Hinblick auf diese beiden Nachhaltigkeitsziele führen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Es wird erforderlich sein, eine Kompromisslinie zu identifizieren, die beiden Zielen einigermaßen gerecht wird.

2. Die Diskussion unserer heutigen Veranstaltung ist fokussiert auf die Nachhaltigkeit in Krisenzeiten
Mein Eindruck ist, dass die aktuelle Diskussion zu stark geprägt ist vom aktuellen Krisentypus. Dies dominiert auch die in den gezeigten Umfragen geäußerten Ansichten.
Eine Kette von fünf Sommern ohne Regen in Westeuropa oder in Indien/China/Afrika müsste hinsichtl. Krisenprävention ganz andere Maßnahmen auslösen als eine Pandemie wie wir sie augenblicklich erleben. Ausrichtung auf „Krisenfestigkeit“ erfordert Abwägungen verschiedener Risiken.
Klaus Dittert
Passt nicht mittelbar zum Thema, aber auf Grund der Aktualität: mich würde Ihre aller Position zur Empfehlung des Ethikrats heute zur Tierhaltung interessieren? Annemone Radleff-Schlimme
Thema Eingriff der Politik in den Markt:
Für wie erfolgsversprechend halten Sie den Vorschlag des Grünen-Politikers Robert Habeck einen Mindestpreis für Fleischerzeugnisse einzuführen und welche Risiken sehen Sie?

Antwort von Prof. Dr. Achim Spiller:

Für sehr wenig erfolgversprechend, wir haben immer schlechte Erfahrungen mit Mindestpreisen gemacht, besser die heute auch vom Ethikrat geforderte Fleischsteuer.
Dina Schärfe
Falls es noch Zeit gibt, wäre ich sehr an einer Einschätzung zum Mercosur-Freihandelsabkommen von jemandem aus der Runde interessiert. Ich befürchte da nämlich, dass die Präferenzen auf Nachfrageseite nicht ausreichen werden, um negative Biodiversitätseffekte ausgleichen zu können, die durchaus durch die verstärkte Spezialisierung auf Agrarprodukte in Südamerika ausgelöst werden (könnten). Jakob Vincent Latzko
In der Debatte um die GAP und der Strategiepläne der Kommission kommt der regionalen Versorgung und dem höheren Selbstversorgungsgrad sicher eine höhere Bedeutung zu. Aber kann man tatsächlich davon ausgehen, dass dies auch ein plus an Umweltschutz, Klimaschutz und Biodiversität bedeutet? Katharina Elwert

Abstimmungsergebnisse

Zu Beginn der Debatte und am Ende haben wir dem Publikum folgende drei Fragen via Zoom gestellt:

1. Waren vor allem Hamsterkäufe für leere Supermarktregale in Deutschland verantwortlich? 

2. Führt ein hoher Selbstversorgungsgrad zu einem krisenfesteren Ernährungssystem?

3. Sind insbesondere lange Lieferwege anfällig für Störungen in Krisenzeiten?

Ein Vergleich der Ergebnisse zeigte, dass die überwiegende Mehrheit Hamsterkäufe für leere Supermarktregale verantwortlich macht, und zwar vor und nach der Debatte. Für die zweite und dritte Frage verschob sich das Meinungsbild jedoch: Vor der Debatte gab eine große Mehrheit unserer Zuschauer an, dass ein hoher Selbstversorgungsgrad zur Krisenfestigkeit beiträgt; auch glaubten die allermeisten, dass lange Lieferwege anfälliger für Störungen in Krisenzeiten sind. Nach der Debatte hatten sich die Anteile zum Teil stark verschoben, so dass nun die Mehrheit nicht mehr angab, dass ein hoher Selbstversorgungsgrad zu einem krisenfesteren Ernährungssystem führt; auch dachten weitaus weniger unserer Zuschauer nun, dass lange Lieferwege anfälliger für Störungen sind.

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