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Ein sinnvoller Beitrag zur Transformation der Tierhaltung oder Trojanisches Pferd für die Borchert-Kommission?

Aldi hat am Freitag, den 25. Juni 2021 angekündigt, bis zum Jahr 2030 Fleisch (Schwein, Geflügel, Rind) aus den heute üblichen Haltungsformen aus seinem Sortiment komplett auszulisten. Auch die Wettbewerber haben mittlerweile bekanntgegeben, zukünftig zunehmend auf tierfreundliche Haltungsformen setzen zu wollen. Fleisch, das nach dem heutigen gesetzlichen Standard produziert wird (Haltungsstufe 1), aber auch aus den Ställen nach Maßgabe der Initiative Tierwohl (Haltungsstufe 2), soll in 9 Jahren bei Aldi nicht mehr zu finden sein (eine Übersicht über die Haltungsformen nach der Kennzeichnung des deutschen Lebensmittelhandels gibt Abbildung 1). Etwas verkürzt gesagt bedeutet das: Frischfleisch aus offenen Ställen mit deutlich mehr Platz wird bei Aldi zum Mindeststandard. Frischfleisch aus geschlossenen Ställen, die den Tieren keinen Zugang zu Außenklima geben, wird ausgelistet. Offenställe entsprechen der Haltungsstufe 3 der Haltungskennzeichnung des deutschen Lebensmittelhandels, Freilandhaltungen der Haltungsstufe 4. Die jetzigen Stufen 1 und 2 wird es entsprechend im Jahr 2030 bei Aldi im Frischfleischsegment nicht mehr geben. Angesichts der notwendigen Umstellungskosten ist vor diesem Hintergrund zu erwarten, dass vertikale Markenprogramme, in der sich die Landwirtschaft an Verarbeiter bzw. Vermarkter bindet, auch bei Schwein und Rind an die Stelle ungebundener Marktsysteme treten werden. Die vertikale Bindung wird, wie heute schon im Geflügelbereich üblich, auch in der Schweine- und Rindfleischproduktion zunehmen, da die Spezifität der Produktion steigt.

Auch wenn Aldis aktueller Vorstoß durchaus überraschend ist, hat sich die Richtung der Entwicklung bereits seit längerem angedeutet. So haben andere Handelsunternehmen in jüngerer Zeit ebenfalls verschiedene Initiativen zur Förderung der Haltungsstufen 3 und 4 unternommen. Kaufland hat mit seinem K-Wertschätze-Programm bspw. Fleisch der Haltungsstufe 3 beim Schwein ins Sortiment aufgenommen und zeichnet dieses Fleisch mit einem eigenen Label aus (https://unternehmen.kaufland.de/fleischwerke/landwirte.html). Mehrere Handelsunternehmen fördern zunehmend Biofleisch und andere Programme für Haltungsstufe 4 wie etwa das Labelprogramm des Deutschen Tierschutzbundes.

Die Ankündigung von Aldi hat in der Branche schnelle Resonanz gefunden. Die Schwarz-Gruppe hat angekündigt Fleisch der Stufe 1 bei Kaufland sofort und bei Lidl bis Ende 2021 aus dem Sortiment zu nehmen. Bis 2023 soll das Angebot von Fleisch aus Stufen 3 und 4 bei Schwein und Geflügel verdoppelt werden. Auch bei Rewe gibt es eine Ankündigung bis 2030 im Eigenmarken-Frischfleischsortiment (Schwein, Rind, Geflügel) komplett auf Haltungsstufen 3 und 4 umzustellen. Bei verarbeiteten Produkten unter Eigenmarke sollen bis 2025 50 % des Sortiments aus Haltungsform 2 kommen. Auch Edeka plant Anpassungen hin zu höheren Haltungsformen, hat sich aber bisher nicht konkret geäußert.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig abzuschätzen, was aus dem Aldi-Vorstoß für die Tierschutzpolitik in Deutschland folgt. Haben sich die Vorschläge der Borchert-Kommission überholt? Übernimmt jetzt der Markt bzw. die Nachfragemacht des Handels die Regie? Im Folgenden unternehmen wir den Versuch, einige mögliche Szenarien zu skizzieren. Dabei kann der Verlauf der Diskussionen um die Käfighaltung von Legehennen zu Beginn der 2000er-Jahre, die auch maßgeblich durch den Handel angestoßen wurde, einige Anhaltspunkte liefern.

Quelle: https://www.haltungsform.de/wp-content/uploads/ITW_Haltungskriterien.pdf (02.07.2021).

 

Die Käfigei-Diskussion in den 2000er-Jahren

Die Auslistung von Käfigeiern im Jahr 2004 hat dazu geführt, dass die Bodenhaltung von Legehennen zum Standard in Deutschland geworden ist. Aldi startete damals mit der Auslistung von Käfigeiern aus dem Sortiment und in der Folge zogen alle anderen großen Handelsunternehmen nach. Später reagierte der Gesetzgeber mit einem Verbot der konventionellen Käfighaltung von Legehennen in der EU, das seit dem Jahr 2010 in Kraft getreten ist. Käfigeier verschwanden in der Folge aus den Regalen. Durch den Umstieg auf die Bodenhaltung wurden die Eier in der Folge rund 1 Cent/Ei für die Verbraucher:innen teurer. Das waren deutlich weniger Mehrkosten als viele Marktbeobachter vorher erwartet hatten.

Allerdings bezog sich die Selbstverpflichtung zur Auslistung von Aldi zunächst nur auf Konsumeier (damit sind ganze Eier gemeint; diese machen rund 50 % der verkauften Eier in Deutschland aus), nicht jedoch auf Eier, die in Verarbeitungsprodukten verwendet werden. Auch andere Absatzkanäle, wie der Außer-Haus-Markt, blieben zunächst außen vor. Beginnend mit der Entscheidung von Aldi verschwand die Käfighaltung in Deutschland somit nur etappenweise. Die aktuelle Selbstverpflichtung von Aldi zur Auslistung von Frischfleisch aus geschlossenen Ställen könnte möglicherweise ähnliche Entwicklungen im Fleisch- und Wurstbereich anstoßen und ein sukzessives Verschwinden des gesetzlichen Mindeststandards aus dem Markt zur Folge haben.

Die 2004 von Aldi und den anderen Händlern nur auf Konsumeier bezogene Selbstverpflichtung löste in den folgenden Jahren eine Reihe von Problemen in der Landwirtschaft und für die Verbraucher:innen aus. Käfigeier aus anderen Ländern, heute z. B. aus der Ukraine, spielten im Verarbeitungsmarkt weiterhin eine erhebliche Rolle. Es kam also zu Tierschutzdumping, indem verarbeitete Käfigeier importiert wurden. Die Verbraucher:innen wurden jedes Jahr zu Ostern von Medienberichten über gefärbte Käfigware verunsichert. Erst ganz langsam gelang es in den letzten Jahren, die Bodenhaltung auch bei Verarbeitungsware als Standard zu etablieren, weil die Handelsunternehmen und einige Markenartikler Bodenhaltung bei ihren Marken umsetzten und z.T. auch kennzeichnen. Seit 2018 sind bspw. bei Aldi-Eier aus mindestens Bodenhaltung auch in verarbeiteten Eigenmarkenprodukten Standard. In Hotels und im Gaststättengewerbe finden Verbraucher:innen aber nach wie vor häufig Käfigware. Sowohl Verbraucherverbände, aber auch die deutsche Geflügelwirtschaft forderten deshalb ebenfalls eine Kennzeichnungspflicht für Eier in Verarbeitungsware und im Außer-Haus-Markt. Es wäre im Rückblick wohl besser gewesen, wenn der deutsche Handel Anfang der 2000er Jahre seine Selbstverpflichtung direkt auf Verarbeitungsware ausgedehnt hätte, um diese langwierige Diskussion, Tierschutzdumping und Verbraucherverunsicherung zu vermeiden.

Was lässt sich aus dieser Fallstudie für den heutigen Fleischmarkt lernen?

  1. Wenn ein kleineres Marktsegment (hier Bodenhaltung) zum neuen Standard wird, dann sinken die Mehrkosten perspektivisch erheblich, weil Größenvorteile genutzt werden können und Transaktionskosten sinken.
  2. Die Selbstverpflichtung eines Leitunternehmens des deutschen Handels wie Aldi kann weitreichende Imitationsprozesse anstoßen und einen neuen Branchenstandard begründen, wenn andere Unternehmen nachziehen. Es gibt allerdings auch weniger erfolgreiche Beispiele, z. B. der gescheiterte Versuch von Lidl, nur noch Fairtrade-Bananen zu listen, der deshalb misslang, weil die Konkurrenten nicht mitzogen (siehe Textbox 1).
  3. Eine weitreichende Selbstverpflichtung erleichtert es dem Gesetzgeber, die vom Handel gesetzten Standards später als Mindeststandard auch rechtlich zu implementieren.
  4. Es wäre besser gewesen, wenn der deutsche Handel Anfang der 2000er Jahre seine Selbstverpflichtung gleich auch auf Verarbeitungsware ausgedehnt hätte. Dies hätte Tierschutzdumping zu Lasten der deutschen Landwirtschaft und Verbraucherverunsicherung verringert. Im Fleischmarkt macht Frischfleisch nur rund 1/3 der Schlachtmenge in Deutschland aus, ein weiteres Drittel entfällt auf Wurst bzw. verarbeitete Lebensmittel auf der einen und auf den Export auf der anderen Seite. Das Risiko für Tierschutzdumping ist daher im Fleischmarkt nochmals größer als im Eiermarkt und könnte auftreten, wenn Verarbeitungsware nicht einbezogen wird.

 

Fairtrade-Bananen bei Lidl gescheitert

„Im Herbst 2018 hatte sich Lidl medienwirksam verpflichtet (Lidl 2018), nur noch Fairtrade-zertifizierte  Bananen zu vermarkten. Das Unternehmen startete mit einer sukzessiven Umstellung der nicht Fairtrade-zertifizierten Bananen, die bisher das Rainforest Alliance-Label trugen, auf ausschließlich Fairtrade-zertifizierte Bananen. Da die Bio-Bananen bei Lidl zu diesem Zeitpunkt bereits Fairtrade-zertifiziert waren, sollten dann mit Abschluss der Umstellung ausschließlich Bananen aus „fairem Handel” gelistet sein. Der Beschluss zur Auslistung der nicht Fairtrade-zertifizierten (sprich: Rainforest Alliance-) Bananen wurde im Mai 2019 wieder zurückgenommen, da Marktanteile gegenüber anderen Handelsunternehmen verloren gingen. Lidl hat seitdem (d.h. seit Sommer 2019) in allen Filialen drei Bananen-Varianten im Angebot: Bio-Fairtrade-Bananen, konventionelle Fairtrade-Bananen und konventionelle Bananen, die nicht Fairtrade, aber Rainforst Alliance zertifiziert sind. Die Rücknahme der Auslistung wurde von Lidl in den Medien als Problem fehlender Zahlungsbereitschaften der Kund:innen diskutiert. Die Preise für Fairtrade-Bananen im Frühjahr 2019, als Lidl in ca. 40% der 3.200 Filialen ausschließlich Fairtrade-Bananen gelistet hatte, lagen bei 1,19Euro pro kg. Der Vergleichspreis für konventionelle Bananen beim Hauptwettbewerber Aldi lag damals bei 0,99Euro. Trotz einzelner Preisaktionen, in denen Lidl die Fairtrade-Bananen zeitweise für 0,99Euro und in Einzelfällen sogar für 0,89Euro angeboten hatte, verlor Lidl Marktanteile. Aldi senkte in den Aktionszeiträumen den Preis für Bio-Fairtrade-Bananen von 1,69 auf 1,39Euro (o.V. 2019) und konnte ansonsten über den zumeist 20Cent/kg geringeren Dauerniedrigpreis das Preiseinstiegssegment besetzen. Auch andere Konkurrenten führten Sonderangebote zur Gewinnung von Marktanteilen durch. Lidl monierte in Statements zur Begründung der Rückumstellung, dass andere Lebensmittelhändler bei der Auslistung leider nicht mitgegangen wären. Im Jahr 2018 waren mit rund 92.400 Tonnen rund 10% der deutschen Bananen Fairtrade-zertifiziert. Die Menge hat sich von 2013 auf 2018 knapp verdreifacht (Hielscher 2019, o.V. 2019a). Das Beispiel Fairtrade-Bananen verdeutlicht zum einen die Schlüsselrolle, die Verbraucher:innen einnehmen. Auch bei relativ preisgünstigen Erzeugnissen wie Bananen (mit einem kg-Preis von rund einem Euro), einem relativ bekannten Label und begrenzten Preisaufschlägen von ca. 20 Prozent weist ein Teil der Verbraucher:innen keine Mehrpreisbereitschaft für Fairtrade auf. Dabei ist zu beachten, dass der Anteil besonders preissensibler Haushalte bei den Kund:innen von Discounthändlern wie Lidl größer ist als bei Kund:innen von Supermarktbetreibern wie Edeka und Rewe. Wie der Fall zeigt, eignet sich ein Label in einem wettbewerbsintensiven (oligopolistischen) Markt nur dann zur branchenweiten Anhebung der Standards, wenn alle wesentlichen Wettbewerber mitziehen (wie dies beim Tierschutzthema „Käfigeier” gelungen war). Da Wettbewerbsabsprachen zwischen den Handelsunternehmen kartellrechtlich verboten sind, handelt es sich um eine riskante Entscheidung der Pioniere, die zwischen dem erwarteten Reputationsgewinn und möglichen Marktanteilsverlusten abwägen müssen. Insgesamt spielt der Lebensmittelhandel beim Fairtrade-Labelling wie beim Nachhaltigkeitsmarketing eine wichtige Rolle. Der Erfolg von Initiativen des Handels hängt letztlich wesentlich von der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher:innen und der Reaktion der Wettbewerber ab. Nach Kaffee sind Bananen das zweitstärkste Fairtrade-Produkt, daher schien eine Komplettauslistung immerhin möglich. Bei vielen anderen Importlebensmitteln wäre hingegen eine Komplettauslistung derzeit nicht realisierbar.“ Quelle: WBAE, 2020, S. 154.

Wie verhält sich der Aldi-Vorstoß zum Vorschlag der Borchert-Kommission?

Die Auslistung von Käfigeiern und die Entwicklung der Bodenhaltung zum neuen Standard in der Legehennenhaltung erfolgte im Wesentlichen ohne staatliche Förderung. Ganz im Gegensatz dazu hat das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung (die „Borchert-Kommission“) im Jahr 2020 für tierische Produkte vorgeschlagen, dass:

  • zwar das gleiche Ziel umgesetzt werden soll, aber erst bis zum Jahr 2040 und nicht (wie bei Aldi) schon in 2030.
  • diese Transformation der Tierhaltung langfristig und verlässlich durch staatliche Zahlungen abgesichert wird. Pro Jahr sollen nach den Vorschlägen der Borchert-Kommission die Tierhalter:innen in Deutschland ca. 2,5 bis 4 Mrd. Euro zum Ausgleich der Mehrkosten der verbesserten Haltung erhalten.

Zwei Fragen stellen sich damit für die politischen Entscheider:innen:

  1. Ist der Aldi- oder der Borchert-Zeitplan realistischer?
  2. Benötigt es die staatlichen Zahlungen überhaupt, wenn der Lebensmittelhandel Fleisch mit geringem Tierwohlstandard ohnehin auslistet und tierfreundliche Haltungssysteme zum Standard werden?

Zu Frage 1: Es wäre für die Landwirtschaft leichter „verträglich“, wenn der Prozess ein wenig länger dauert, aber dafür in der Breite – also inklusive Wurst/Verarbeitungsware – stattfindet. Die Herausforderung Baugenehmigungen für Stallum- und -neubauten zu erhalten, ist bekanntlich erheblich und macht eine schnelle Umstellung auf die Haltungsformen 3 und 4 für viele Betriebe schwierig. Es ist auch nicht so, dass die Stallbauunternehmen in Deutschland schon alle erprobte Um- und Neubaukonzepte in der Tasche hätten. Der Zeitplan bis 2030 ist daher sehr ambitioniert.

Noch entscheidender ist Frage 2: Wenn tierfreundliche Haltungssysteme (Stufe 3) perspektivisch neben Fleisch auch für Verarbeitungsware zum Mindeststandard im Handel werden, ist kein Tierschutz-Dumping durch Importe aus dem Ausland zu befürchten. Müssten Mehrkosten dann überhaupt noch staatlich getragen werden, da der Markt ja die Mehrkosten erlösen könnte? Hier gibt es verschiedene Argumentationslinien: In der Landwirtschaft verbreitet ist eine Argumentation, nach der bei einer Auslistung der Haltungsstufen 1 und 2 die Kosten der Umstellung im Wesentlichen bei den Landwirt:innen verbleiben, da der Handel aufgrund seiner Marktmacht den Produzent:innen die neuen Bedingungen „einfach aufdrückt“, ohne dafür zu zahlen. Volks- wie betriebswirtschaftlich ist diese Position nicht ganz überzeugend. Tierschutzbedingte Kostenerhöhungen führen zu steigenden Preisen, was die Nachfrage (über die Preiselastizität) reduzieren wird – nach unseren ersten groben Schätzungen um vielleicht 5 %. Damit verbundene Anpassungsprozesse können tatsächlich die Erzeugerpreise (wg. der temporären Mengenüberschüsse) unter Druck setzen. Der Druck auf die Preise ist aber ein vorübergehender Prozess. Langfristig werden Landwirt:innen nur dann Tiere halten, wenn sich dies rechnet. Die Einkommen der Tierhalter:innen in Deutschland waren in den letzten Jahren bereits nicht rosig. Viel weiter werden die Gewinne aus der Tierhaltung nicht sinken können, wenn die Produktionsbasis im Kern erhalten bleiben soll – woran auch die Händler ein Interesse haben müssen, denn international ist entsprechende Tierschutzware (Stufe 3 und 4) gar nicht hinreichend verfügbar. Ein Rückgang der Tierzahlen ist jedoch in bestimmtem Maße zu erwarten und auch in den Berechnungen zu den Vorschlägen der Borchert-Kommission einkalkuliert. Letztlich wird die Tierhaltung in Deutschland spezifischer werden, d. h. weniger austauschbar, da es nur in wenigen Ländern Lieferanten gibt, die Produkte mit ähnlichen hohen Tierwohlstandards liefern können. Der Druck des Weltmarktes auf die Erzeugerpreise sollte deshalb durch diesen Transformationsschritt langfristig geringer werden. Drei mögliche Reaktionen der Politik sind im Grundsatz denkbar:

  1. Eine mittlere Option könnte sein, die Investitionskosten der Um- und Neubauten der Ställe zu subventionieren, da die Landwirtschaft die beschleunigte Transformation möglicherweise nicht alleine stemmen kann. Die Haltungsstufe 3 und 4 mit Offenhaltung bzw. Freilandhaltung/Weidehaltung ist in den heute üblichen Ställen nicht einfach umsetzbar und setzt Umbauten voraus, die über die Öffnung einer Stallseite hinausgehen. Die Folgenabschätzung des Thünen-Institutes beziffert den Finanzierungsbedarf einer Transformation (bei einer Übernahme von 40% des Investitionswertes und Kompensation von 85% der laufenden Mehrkosten) auf durchschnittlich 2,9 Mrd. Euro, die jährlich bis 2040 kompensiert werden müssten. Auf die Investitionskosten entfallen dabei bei ca. 1,1 Mrd. Euro, was etwa 37,5% der Gesamtsumme entspricht (Zahlen beziehen sich auf kontraktive Baseline; Kälber, Legehennen und Mastputen noch nicht berücksichtigt; Deblitz et al., 2021). Dies ist eine erhebliche Herausforderung für die Landwirtschaft. Eine mittlere Option würde also darin liegen, nur die Investitionen staatlich zu bezuschussen.
  2. Man könnte allerdings auch die Position vertreten, dass zur Absicherung des Umbaus der Tierhaltung der Finanzierungsvorschlag der Borchert-Kommission trotz der Initiative Aldis komplett beibehalten werden sollte. Hierfür spricht, dass die Unsicherheit bei Tierwohlinvestitionen in der landwirtschaftlichen Praxis derzeit extrem hoch ist. Würden Landwirt:innen im Vertrauen auf die Zusagen von Aldi und weiteren Händlern und der sie beliefernden Schlacht- und Verarbeitungsunternehmen hohe Investitionen in neue Ställe tätigen? Die Rentabilität dieser Investition, die typischerweise auf 20 bis 25 Jahre abgeschrieben wird, ist ohnehin riskant, denn die Zukunft des Fleischkonsums ist bei den aktuellen Trends zu immer mehr Vegetarier:innen hochgradig unklar. An den Beispielen der Sauenhaltung oder Ferkelkastration hat sich gezeigt, dass landwirtschaftliche Betriebe ziemlich lange abwarten und – manchmal auch mit Unterstützung ihrer Interessenvertretungen – darauf setzen, dass es schon noch anders kommen wird. Unser Eindruck aus vielen Gesprächen mit Landwirt:innen ist zumindest, dass der „Abschied vom Warmstall“ in der Breite noch nicht akzeptiert ist, geschweige denn, dass die Mehrheit der Betriebe diesen Weg mit Tierschutzbegeisterung gehen würde. Deshalb könnte es sinnvoll sein, dass die Politik in der nächsten Legislaturperiode den Pull-Effekt des Handels durch Anschubinvestitionen und laufende Zahlungen absichert, damit der Weg unumkehrbar wird. Auch für den Handel würde die Umstellung damit risikoloser.
  3. Die Politik könnte schließlich auch eine Position vertreten, nach der der Markt durch die Zusicherungen eines marktführenden Unternehmens hinreichend verlässliche Marktsignale für eine Transformation aufweist. Wenn sich weitere nachfragemächtige Abnehmer im Handel und auch im Außer-Haus- und Verarbeitungsmarkt verpflichten, Tierschutzanforderungen flächendeckend umzusetzen, dann müsste die Politik diese Zusicherung schon in Frage stellen, um weiteren Subventionsbedarf zu sehen. Wenn wesentliche andere Player mit Aldi gleichziehen und wenn perspektivisch auch die Wurst sowie Verarbeitungsprodukte in die Selbstverpflichtung einbezogen würden, wäre eine für die Landwirtschaft verlässliche Basis geschaffen. Warum sollten in einem solchen Fall Steuergelder investiert werden, wenn doch die Abschaffung der Käfighaltung auch ohne größere Subventionen gelungen ist?

Fazit

Die Entscheidung des Discounters Aldi und von Rewe zur Auslistung der Haltungsstufen 1 und 2 bis zum Jahr 2030 ist ein betriebswirtschaftlich durchaus riskanter, aus Sicht der Corporate Social Responsibility sehr beachtenswerter Schritt. Das Beispiel der Käfighaltung zeigt, dass diese Entscheidungen von Aldi und Rewe den Beginn eines umfassenden Transformationsprozesses darstellen können – zumindest dann, wenn weitere Unternehmen einsteigen. Dies deutet sich an. Die Händler reagieren hier auf die sehr breite Bevölkerungsunterstützung für mehr Tierschutz.

Für den Vorschlag der Borchert-Kommission wirft diese Entwicklung erhebliche Herausforderungen auf. Die Agrarpolitik in Deutschland hat dem Borchert-Plan in Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit bzw. einstimmig zugestimmt, eine Umsetzung der Empfehlungen in dieser Legislaturperiode durch die Zwischenschaltung von Machbarkeits- und Folgenabschätzung aber unterlassen.

Jetzt wird durch die Entscheidung von Aldi die Situation komplexer. Die Chancen für eine marktliche Lösung steigen. Vorteil einer solchen Lösung wäre auf der einen Seite, dass die Kosten des Tierschutzes sich am Markt ergeben würden und nicht durch langfristige Verträge auf Basis von unsicheren Vorab-Kalkulationen politisch vorgegeben werden müssen. Dies würde aller Voraussicht nach die Kosten für die Verbraucher:innen senken. Außerdem würden die EU-rechtlichen Herausforderungen des Vorschlags der Borchert-Kommission entfallen. Auf der anderen Seite wäre das Risiko für die Landwirtschaft größer. Der Vorschlag der Borchert-Kommission ist in gewissem Sinne auch ein Plan zur „Sektorbefriedung“ (s. dazu auch Zukunftskommission Landwirtschaft 2021). Eine rein marktliche Lösung auf Basis der Nachfragemacht des LEH verstärkt eher den Druck auf die Landwirtschaft. Deshalb sollte der Plan der Borchert-Kommission nicht vorschnell aufgegeben werden.

Es zeigt sich, dass die Transformation der Tierhaltung ein verzwicktes Problem („wicked problem“) darstellt, bei dem „alles mit allem zusammenhängt“ und es immer wieder zu überraschenden Entwicklungen kommt. Wahrscheinlich wären Kaufland und Aldi ohne die vorherige Diskussion um die Borchert-Kommission nicht so aktiv geworden. Jetzt kann es sein, dass die Wechselwirkungen neue politische Überlegungen zum Zusammenspiel von Politik und Markt nötig machen. Auf jeden Fall wird deutlich, dass die Prozesse der Sektortransformation wenig mit dem Lehrbuchwissen zu tun haben, nach der die Präferenzen der Konsument:innen unmittelbar das Angebot der Produzent:innen bestimmen. Die (diskretionären) Handlungsspielräume des LEH sind inzwischen so groß, dass er erhebliche Verantwortung für die Sektortransformation trägt. Der Vorstoß von Aldi ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich zu begrüßen. Vorteilhaft wäre es, wenn (1) die Selbstverpflichtung auf Verarbeitungsware ausgedehnt wird und (2) das Gespräch mit der Politik gesucht würde, um einen Weg für die Sektortransformation festzulegen.

Letztlich sollte die Politik aber in der nächsten Legislaturperiode unbedingt Verantwortung für die Sektortransformation übernehmen. Ohne politische Begleitung wird es nicht gehen. Eine Förderung der Investitionen erscheint angesichts der von Aldi vorgezeichneten Geschwindigkeit des Umbaus aus unserer Sicht auf jeden Fall sinnvoll. Die schwierige Entscheidung über die laufenden Ausgleichszahlungen, also Prämienhöhe und Prämienlaufzeit, muss am Beginn der nächsten Legislaturperiode von einer neuen Regierung festgelegt werden. Derzeit sind noch viele Fragen offen, die maßgeblich von Entscheidungen auf politischer Ebene, aber auch vom Verhalten der Landwirt:innen, von Industrie und Handel abhängig sind:

  • Wie viele Landwirt:innen werden ihre Betriebe in den verschiedenen Szenarien umbauen oder Ställe neu bauen?
  • Wie viele Tiere sollen in Deutschland langfristig gehalten und entsprechend gefördert werden? Wie entwickelt sich der Fleischkonsum in Deutschland? Welche Rolle spielt die Klimapolitik? Die Mengenfrage ist der blinde Fleck der bisherigen Diskussion, der an vielen Stellen immer wieder zum Vorschein kommt.
  • Für wie viele Jahre können und sollten staatliche Förderungen in dynamischen Märkten zugesichert werden? Industrie und Handel bieten heute für Marktsegmente wie Tierwohl und Bio Vertragslaufzeiten für landwirtschaftliche Betriebe von ca. 5-10 Jahren an. Reicht das aus?
  • Wie viele Betriebe entscheiden sich ggf. gegen einen Umbau und produzieren dann auf gesetzlichem Mindeststandard vorrangig für den Exportmarkt? In den Niederlanden lässt sich ein solchermaßen gespaltener Markt bereits beobachten. Oder zieht der Gesetzgeber den ordnungsrechtlichen Mindeststandard im Laufe der Zeit an? Und wenn ja, auf welches Niveau?
  • Wie wirkt sich möglicherweise ein kommendes staatliches Tierschutzlabel auf die Marktentwicklung aus?
  • Wie werden landwirtschaftliche Betriebe und Schlachtunternehmen aus dem Ausland auf die Handelsankündigungen reagieren? Bei Eiern haben damals z. B. niederländische Produzenten sehr schnell auf die Käfigei-Auslistung mit eigenen Investitionen (in die Bodenhaltung) reagiert.

Quellen

Deblitz C, Efken J, Banse M, Isermeyer F, Rohlmann C, Tergast H, Thobe P, Verhaagh M (2021) Politikfolgenabschätzung zu den Empfehlungen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung. Braunschweig: Johann Heinrich von Thünen-Institut, 191 p, Thünen Working Paper 173. DOI:10.3220/WP1619424590000https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn063574.pdf

WBAE –Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim BMEL (2020). Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten. Gutachten, Berlin. https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-gutachten-nachhaltige-ernaehrung.html.

Zukunftskommission Landwirtschaft (2021): Zukunft Landwirtschaft.  Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft. https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Landwirtschaft/abschlussbericht-zukunftskommission-landwirtschaft.pdf?__blob=publicationFile&v=2

Prof. Dr. Achim Spiller

Prof. Dr. Achim Spiller

Herr Spiller ist seit 2000 in Göttingen und leitet dort den Lehrstuhl Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Konsumentenverhalten, Nachhaltigkeitsmanagement und Tierwohl.

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