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Worum geht es?

Am 07. Juni 2022 hat Bundesminister Özdemir (BMEL) ein Eckpunktepapier zur Einführung einer verpflichtenden staatlichen Tierhaltungskennzeichnung für Fleisch vorgelegt. Mit dem folgenden Beitrag bringen wir die bisher etwas vernachlässigte Perspektive des Marketings in die Diskussion ein und gehen der Frage nach, wie eine Haltungskennzeichnung möglichst viel zum Tierschutz beitragen kann. Dazu wollen wir einige konstruktive Vorschläge machen.

Wenn die „Borchert-Lösung“ einer staatlichen Finanzierung der variablen Mehrkosten nicht oder nur begrenzt umgesetzt wird, dann müssen die weiteren möglichen Finanzierungsquellen um so konsequenter verwirklicht werden.

Dr. Gesa BuschLehrstuhl Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte | Uni Göttingen
Ein Disclaimer vorab
  1. Während ein (für inländische Unternehmen) verpflichtendes Kennzeichen grundsätzlich viel Unterstützung von verschiedenen Stakeholdern findet, gibt es lebhafte Kritik an der alleinigen Konzentration auf Haltungssystemkriterien. Seit dem Paradigmenwechsel der Tierschutzdiskussion Mitte der 2000er Jahre ist es wissenschaftlich akzeptiert, dass die Beurteilung des Tierwohls auf verschiedenen Indikatoren beruhen sollte. Dazu gehören das Haltungssystem, aber auch die Qualität des Managements, der Stand der Tiergesundheit und das Tierverhalten. Dass das BMEL (wohl aus EU-rechtlichen Gründen) im aktuellen Vorschlag nur auf das Haltungssystem fokussiert, schmälert die Aussagekraft der Kennzeichnung in Bezug auf das Tierwohlniveau erheblich (Lösungsansätze dazu siehe unten).
  2. Die vorgeschlagene verpflichtende Tierhaltungskennzeichnung ist für die Verbrauchertransparenz im Fleischmarkt wichtig – aber kein Game Changer. Es ist in der Forschung weitgehend Konsens, dass ein Label allein keinen Transformationsprozess der Nutztierhaltung anschieben kann. Energiewende, Mobilitätswende oder eben Transformation der Nutztierhaltung: Diese großen gesellschaftlichen Herausforderungen lassen sich nur durch einen konsistenten Politik-Mix angehen – inklusive Genehmigungsfragen und Finanzierungslösungen. Ohne ein Finanzierungskonzept werden die Investitionen in neue Haltungsformen für mehr Tierwohl auf landwirtschaftlicher Ebene nicht in benötigtem Maße stattfinden (können).
  3. Ein zentrales Element einer solchen Finanzierung sind, neben der Förderung von Investitionskosten, staatliche Zahlungen zur Abdeckung der höheren laufenden Kosten einer tierfreundlicheren Haltung. Die Borchert-Kommission (Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung 2021, https://www.bmel.de/DE/themen/tiere/nutztiere/umbau-nutztierhaltung.html) hat einen Betrag von ca. 3 Mrd. € p.a. ermittelt und dazu einen „Vollkasko-Vorschlag“ gemacht: Eine auf 20 Jahre angelegte, vom Staat vertraglich abgesicherte Finanzierung der laufenden Mehrkosten. Aller Voraussicht nach wird diese Komplettlösung politisch aufgrund von Widerständen der FDP nicht politisch umgesetzt – was voraussichtlich eher zu einem Abbau statt zu einem Umbau der Tierhaltung in Deutschland führen wird.

Wenn die „Borchert-Lösung“ einer staatlichen Finanzierung der variablen Mehrkosten nicht oder nur begrenzt umgesetzt wird, dann müssen die weiteren möglichen Finanzierungsquellen um so konsequenter verwirklicht werden. Grundsätzlich gibt es vier Finanzierungsmöglichkeiten für eine Transformation der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung (Abbildung 1). Konsument:innen, die einen Aufpreis für tierfreundlichere Haltungsformen bezahlen, sind eine Säule der Finanzierung. Der folgende Beitrag diskutiert deshalb, wie die Haltungskennzeichnung effektiv(er) umgesetzt werden könnte, um den Beitrag der Konsument:innen zu erhöhen.

Abbildung 1: Vier Finanzierungs-Säulen für die Transformation der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung

Sieben Punkte für eine verbraucherwirksame Tierwohlkennzeichnung

Die folgenden Überlegungen zielen auf eine Weiterentwicklung der im Eckpunktepapier zur Einführung einer verpflichtenden staatlichen Tierhaltungskennzeichnung vorgelegten Pläne. Wir schlagen sieben Punkte vor.

Punkt 1: Alle Erzeugnisse, Sortimentsbereiche und Absatzkanäle einbinden

Der Einbezug aller tierischen Erzeugnisse, nicht nur Schweinefrischfleisch, erhöht die Marktpräsenz deutlich und führt zu einem höheren Bekanntheitsgrad. Der Mere-Exposure-Effekt beschreibt im Marketing, dass allein der häufigere Kontakt mit einer Werbebotschaft sowie die stärkere Präsenz im Markt zu einem besseren Image und höheren Vertrauen bei Verbraucher:innen führen. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn nicht nur Frischfleisch, sondern auch verarbeitetes Fleisch und nicht nur der LEH, sondern alle Absatzkanäle (inkl. der Außer-Hausverpflegung) möglichst viele Produkte kennzeichnen müssten. Das BMEL plant diese Ausweitung auch grundsätzlich und sollte aus den obigen Gründen kurzfristig handeln, um eine breite Marktabdeckung und damit einen hohen Bekanntheitsgrad der Kennzeichnung möglichst schnell zu erreichen.

Punkt 2: Assoziative und intuitiv verständliche Bezeichnungen wählen

Die geplante Haltungskennzeichnung operiert an zentraler Stelle mit beschreibenden Bezeichnungen für die Haltungsformen: Stallhaltung, Stall + Platz, Frischluftstall, Auslauf/Freiland und Bio. Die meisten Konsument:innen sind heute relativ weit weg von der landwirtschaftlichen Tierhaltung. Nach unseren Studien war nur jede(r) 10. Konsument:in schon einmal in einem modernen Stall. Deshalb ist es wichtig die Begriffe so zu wählen, dass die Menschen intuitiv eine Vorstellung von der hinter der Bezeichnung stehenden Tierhaltung gewinnen. Die Haltungsformkennzeichnung des Handels ist in dieser Hinsicht kein gutes Vorbild. Die folgende Abbildung zeigt die Ergebnisse einer näherungsweise repräsentativen Verbraucherbefragung zur wahrgenommenen Verständlichkeit der Haltungsformkennzeichnung des LEH. Während die Menschen zu Stallhaltung noch relativ klare Vorstellungen haben, verstehen die Verbraucher bei den anderen Haltungsformen (insbesondere bei Haltungsform 2) deutlich weniger, was diese bedeuten. Stallhaltung plus ist überhaupt nicht selbsterklärend, und nur etwa jede/r dritte Verbraucher:in kann sich darunter etwas vorstellen (Abbildung 2).

Abbildung 2: Verständlichkeit der Begriffe der Haltungsformkennzeichnung am Beispiel von Produkten der Tierarten Hähnchen und Schwein, n=1.223; Frage: Inwieweit stimmen Sie den folgenden Aussagen zu? (abgebildet sind Top-Boxes [Stimme voll und ganz zu, Stimme zu, Stimme eher zu])

Wir sehen keine Argumente, warum der Handel nicht die staatlich gesetzten Haltungsstufen übernehmen und in sein eigenes Kennzeichnungssystem einbauen sollte.

Dr. Sarah KühlLehrstuhl Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte | Uni Göttingen

Im Eckpunktepapier des BMEL werden die Begriffe Stallhaltung, Stall + Platz, Frischluftstall, Auslauf/Freiland und Bio genannt. Im ersten Zugriff sehen wir einige Probleme bei diesen Begriffen, insbesondere bei Stallhaltung + Platz und bei der Abgrenzung des Frischluftstalls von Auslauf/Freiland. Da die Frage der intuitiv möglichst verständlichen Begriffe ganz zentral für den langfristigen Erfolg ist, sollte die Frage der passenden Begriffe empirisch auf Basis von Konsumententests entschieden werden. Aus der Markenforschung sind entsprechende Testverfahren hinreichend bekannt. Die, vergleichsweise, geringen Kosten solcher Tests wären für das BMEL gut angelegt, da eine höhere Verständlichkeit auch das Vertrauen und die Kaufbereitschaft langfristig positiv beeinflusst.

Punkt 3: Eine starke Info-Kampagne durchführen

Die Einführung einer staatlichen Haltungskennzeichnung ist etwas Ähnliches wie die Einführung einer neuen Marke auf dem Lebensmittelmarkt. Bei der Einführung einer neuen Marke oder einer neuen Produktlinie in den deutschen Handel nehmen Hersteller heute typischerweise einen zweistelligen Millionenbetrag für die Einführungswerbung in die Hand. So hat Rügenwalder Mühle seine Veggie-Produktlinie in den ersten Jahren (2015 und 2016) mit einem Werbebudget von ca. 45 Mio. € unterstützt. Bei der Einführung des staatlichen Bio-Siegels Anfang der 2000er Jahre hat das damalige BMEL (Ministerin Künast) eine staatliche Informationskampagne im Umfang von 14,4 Mio. € in den Jahren 2001-2003 erfolgreich umgesetzt. Bedenkt man die komplexere Informationsherausforderung (5 Stufen des Labels), die Größe des Marktes für tierische Produkte und die umfassende Vertrauenskrise auf dem Fleischmarkt, dann spricht vieles dafür, dass für die Info-Kampagne einer Haltungskennzeichnung ein deutlich höheres Budget benötigt wird. Wir schlagen – grob geschätzt – zwischen 70 und 90 Mio. € für einen dreijährigen Einführungszeitraum vor. Eine solche massive Informationskampagne wird einen erheblichen Pull-Effekt auf dem Markt anstoßen, also über einen Nachfragesog den Markt anschieben. Die Kampagne sollte im Zeitverlauf entlang der Wirkungskette der Customer Journey (Aufmerksamkeit – Verständnis – Interesse – Kaufpräferenz – Kauf – Vertrauen – Loyalität) die Zielgruppen adressieren.

Punkt 4: Farblich-interpretative Kennzeichnung nutzen / Haltungsform des Handels einbinden

Vor dem Hintergrund der notwendigen EU-rechtlichen Notifizierung einer für Inländer verpflichtenden Haltungskennzeichnung hat das BMEL eine Reihe von Abstrichen gegenüber einem klassischen Label gemacht (machen müssen?). Ein aus Sicht der Konsumforschung ganz wesentliches Manko ist der Verzicht auf eine Reihung und eine farblich-gestützte Interpretationshilfe. Forschungsarbeiten zum Nutri-Score und anderen Labeln zeigen klar auf, dass eine farbliche Codierung die Verständlichkeit und damit die Wirkung eines Zeichens verbessert. Diese sollte daher auch bei der Haltungskennzeichnung in Erwägung gezogen werden. Problematisch ist zudem, dass das BMEL keine Zertifizierung vorsieht. In der als Musterfall vom BMEL genannten Haltungskennzeichnung von Legehennen hat hat dies bereits nach kurzer Zeit dazu geführt, dass der LEH wegen der hohen Betrugsgefahr in der Kette mit dem Kontrollsystem KAT eine Zertifizierung von seinen Lieferanten gefordert hat (https://www.was-steht-auf-dem-ei.de/de/kat-verein/kontrollsystem/kat-kriterien.php) . Hier sollte der Bund vorgreifen und eine entsprechende Zertifizierung mitdenken.

Beide Argumente sprechen dafür, die staatliche Haltungskennzeichnung mit der bisherigen Haltungsformkennzeichnung des Handels zu verbinden. Wir sehen keine Argumente, warum der Handel nicht die staatlich gesetzten Haltungsstufen übernehmen und in sein eigenes Kennzeichnungssystem einbauen sollte. Dies könnte, wenn es sinnvoll umgesetzt würde, viele Vorteile mit sich bringen. So könnte der Handel daraus ein fünfstufiges, farblich codiertes Label machen. Aus Studien z. B. zum Nutri-Score ist bekannt, dass die Verbraucher:innen ein mehrstufiges, mit Ampelfarben hinterlegtes Label gut verstehen und die klare Reihenfolge Orientierung gibt. Zugleich könnte der LEH eine Zertifizierung von den Lieferanten einfordern. Er sollte dabei angesichts der Relevanz von Vertrauen erweiterte Kriterien für die Anerkennung von Zertifizierungen formulieren (z. B. Kontrollintensität, regelmäßige unangekündigte Kontrollen, intensive Beratung der Betriebe etc.). Schließlich sollte der Handel sein farblich-interpretatives Kennzeichnungskonzept auch für andere Absatzwege wie den Außer-Haus-Markt öffnen.

Die Verbindung von staatlich-verpflichtender Kennzeichnung mit einem privatwirtschaftlichen Zertifizierungssystem eröffnet schließlich auch die Möglichkeit, die im staatlichen Kennzeichnungskonzept fehlenden Vorstufen der Produktionskette (z. B. die Sauenhaltung, Elterntierhaltung beim Geflügel) einzubeziehen. Eine gelingende Abstimmung zwischen Politik und zentralen Akteuren der Wertschöpfungskette ist nicht einfach. In der Vergangenheit lief die Abstimmung BMEL und LEH nicht wirklich reibungslos. Um so wichtiger wäre eine intensive Kommunikation.

Und schließlich könnte auf diesem Weg ein breiteres Indikatorenset ermöglicht werden, weil das Label des Handels keinen EU-rechtlichen Beschränkungen unterliegt: Für eine umfassende Berücksichtigung des Tierwohls in einer Haltungskennzeichnung sollten neben dem Haltungssystem ebenfalls tierbezogene Indikatoren wie Tiergesundheit und Tierverhalten sowie das Management in eine Zertifizierung einbezogen werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass in den Haltungsstufen ein adäquates Tierwohlniveau erreicht wird. Damit würde aus einer reinen Tierhaltungskennzeichnung eine Tierwohlkennzeichnung werden.

Punkt 5: Bildgestützt über die Haltungsformen informieren

Die oben angesprochene Informationskampagne sollte in den ersten Schritten Aufmerksamkeit und insbesondere Verständnis für die Tierwohlvorteile höherer Haltungsformen wecken und im besten Fall Zahlungsbereitschaften generieren. Da die Menschen die Details der verschiedenen Haltungsformen nicht kennen, schlagen wir eine bildgestützte Vorgehensweise vor (Abbildung 3). Die folgende Abbildung zeigt in grober Form eine mögliche Umsetzung auf Basis der bestehenden Haltungsformkennzeichnung des LEH. Selbstverständlich wären die Bilder repräsentativ für die Haltungsformen auszuwählen, z. B. auf Basis von Expertengesprächen, und sollten vor Markteinführung umfassend getestet werden. Die nachstehende Abbildung dient nur zur Veranschaulichung der Idee.

Abbildung 3. Vorschlag für eine transparentere Kommunikation der Haltungsformen.

Die hier gezeigten Bilder sind aktuell nur platzhaltende Beispiele. Entsprechende Bilder müssen sorgfältig ausgesucht werden, damit sie repräsentativ für die dahinterstehenden Betriebe der jeweiligen Haltungsform sind, und sollten mittels Expert:innen ausgewählt und validiert werden. Außerdem schlagen wir die Verwendung von Ampelfarben wie beim Nutri-Score vor.

 

Punkt 6: „Tierwohl-Washing“ unterbinden

Bisher können Begriffe wie ‚tiergerecht‘, ‚Tierwohl‘, ‚artgerecht‘ etc. in den Grenzen des Wettbewerbsrechts frei verwendet werden. Zwar können Verbraucherverbände und die Zentrale zur Bekämpfung des Unlauteren Wettbewerbs einzelne Missbräuche abmahnen, aber nicht flächendeckend alle Problemfälle erfassen. Entsprechend gibt es viele Beispiele für unlautere oder grenzwertige (graue) Claims. Für den Biomarkt hat der EU-Gesetzgeber richtigerweise in der EU-Öko-Verordnung von Anfang an (1992) einen Begriffsschutz vorgesehen. Demnach dürfen Begriffe wie Bio oder Öko bei Lebensmitteln nur genutzt werden, wenn die Erzeugnisse nach EU-Öko-Verordnung zertifiziert sind.

Bei der Haltungskennzeichnung als mehrstufigem System ist es etwas komplizierter. Hier wäre politisch festzulegen, welche Haltungsformen mit Animal-Welfare-Claims beworben werden dürfen. Wir schlagen vor, Begriffe wie tierfreundlich etc. auf die Haltungsstufen zu begrenzen, die das langfristige Zielbild darstellen, bei dem aktuell angedachten fünfstufigen Label also die Haltungsstufen 3, 4 und 5 (Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung 2021).

Punkt 7: Vertrauen in das System aufbauen – alle Stakeholder mitnehmen

Der Erfolg von Nachhaltigkeitslabeln ist kein Selbstläufer. Die folgende Abbildung 4 zeigt den geringen Wahrnehmungs- und Vertrauens-Score verschiedener Zeichen im deutschen Markt. Wir haben dabei ein Fake-Label in eine repräsentative Befragung eingebaut (Befragungszeitraum Januar 2022, Stichprobengröße=1.223). Die (hohen) Zustimmungswerte für dieses Fake-Label verweisen zum einen auf das Rauschen im Markt, d. h. auf die hohe Unsicherheit der Verbraucher:innen. Zum anderen wird deutlich, dass sich einige reale Label davon nur wenig abheben. Besonders hervorheben möchten wir, dass selbst bei der Haltungskennzeichnung des LEH, die etwas präsenter ist, nur 11 % der Befragten dem Zeichen „wirklich“ vertrauen, viele geben nur „eher schon“ an. Ein solches eingeschränktes Vertrauen reicht nicht aus, wenn man Menschen dazu bewegen will, einen vielleicht doppelt so hohen Preis für Fleisch zu bezahlen.

Abbildung 4: Wahrnehmung und Vertrauenswürdigkeit verschiedener Label aus Sicht von VerbraucherInnen, n=1.223; Fragen: Nun würden wir gerne von Ihnen wissen, wie häufig Sie die folgenden Zeichen beim Einkauf schon mal auf Fleischprodukten gesehen haben?, Wenn Sie nun noch mal an die verschiedenen Zeichen denken, würden Sie sagen, dass diese vertrauenswürdig sind?

Der Erfolg der staatlichen Haltungskennzeichnung, hoffentlich in Verbindung mit einem von Wirtschaft und Stakeholdern getragenen Label, wird also davon abhängen, ob es gelingt Vertrauen aufzubauen. Nach mehreren gescheiterten Versuchen und kontroversen medialen Debatten wird das nicht einfach. Ein Blick auf das (erfolgreiche) niederländische Better-Leven-Tierschutzlabel zeigt nach unserer Einschätzung, dass dort ein stärkerer gesellschaftlicher Konsens gelungen ist (dazu https://www.greenpeace.de/sites/default/files/publications/haltungskennzeichnung-tierschutzlabel-gutachten-15.10.2018.pdf). Politik und Wirtschaft in Deutschland stehen daher unter anderem vor den folgenden Fragen und Herausforderungen:

  • Können die Konsenspotenziale der Borchert-Kommission erhalten bleiben und doch noch umgesetzt werden?
  • Sucht das BMEL aktiv die Kooperation mit der Wirtschaft und vice versa?
  • Baut das BMEL intern genügend Managementkompetenzen zur Steuerung des Kennzeichnungsprozesses auf? Eine marktwirksame Kennzeichnung ist kein einfaches Instrument.
  • Wird genügend Budget zur Verfügung stehen, um eine Tierhaltungskennzeichnung in der Breite bekannt zu machen?
  • Öffnen sich QS und ITW (also die zentralen Akteure der privatwirtschaftlichen Zertifizierung) für eine Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen, also einem Multi-Stakeholder-Ansatz wie dies für andere Nachhaltigkeitszertifizierungen heute Standard ist (vgl. die ISEAL Glaubwürdigkeitsprinzipien https://www.isealalliance.org/defining-credible-practice/iseal-credibility-principles)?
Fazit

Angesichts der hohen Verunsicherung in der Tierhaltung hat die Borchert-Kommission einen umfassenden Vorschlag für die Transformation der Nutztierhaltung vorgelegt. Wenn dieser nicht (vollständig) umgesetzt wird, benötigt die Tierhaltung Second-Best-Options. Zu diesen gehört die verpflichtende staatliche Tierhaltungskennzeichnung, die schon aus Gründen der Verbrauchertransparenz ohnehin umgesetzt werden sollte. Das vorgelegte Eckpunktepapier des BMEL lässt allerdings noch viele wichtige Fragen offen.

Vor diesem Hintergrund legt der vorliegende Beitrag sieben Vorschläge für eine wirkungsvolle Ausgestaltung der verpflichtenden staatlichen Kennzeichnung vor. In Politik und Wirtschaft gibt es bisweilen die Vorstellung, eine Verbraucherkennzeichnung wäre ein einfaches und zudem besonders preisgünstiges Instrument. Der sprichwörtliche Labeldschungel ist das Ergebnis dieser unzutreffenden Vorstellung. Mit den sieben Empfehlungen, zusammengefasst in Abbildung 5, wollen wir die Diskussion um eine professionalisierte Kennzeichnungspolitik anstoßen, die die Verbraucherperspektive ernst nimmt.

Abbildung 5: Zusammenfassung der 7 Punkte für eine erfolgreiche Tierhaltungskennzeichnung

Punkt 1: Alle Erzeugnisse, Sortimentsbereiche und Absatzkanäle einbinden Alle tierischen Produkte sollten gekennzeichnet werden. Neben Frischfleisch sollten auch verarbeitete Produkte sowie der Außer-Haus-Markt in die Kennzeichnungspflicht aufgenommen werden.
Punkt 2: Assoziative und intuitiv verständliche Bezeichnungen wählen Die aktuell genannten Bezeichnungen sind nur bedingt verständlich für Verbraucher*innen.  Mittels empirischer Studien sollten geeignetere Begrifflichkeiten ermittelt werden.
Punkt 3: Eine starke Info-Kampagne durchführen Um einen Effekt auf den Märkten zu sehen, muss die Einführung der Haltungskennzeichnung mit einer professionellen Kampagne massiv unterstützt werden (Budget ca. 70 Mio. Euro für drei Jahre).
Punkt 4: Farblich-interpretative Kennzeichnung nutzen / Haltungsform des Handels einbinden Die Haltungskennzeichnung sollte mit der Haltungsform des Handels gekoppelt werden, da diese bereits über eine gute Bekanntheit verfügt. Ein privates Zertifizierungssystem, das weitere Tierwohlindikatoren beinhaltet, sollte integriert werden, um Vertrauen in das Label zu stärken.
Punkt 5: Bildgestützt über die Haltungsformen informieren In der Kommunikation mit Verbraucher:innen, die oftmals wenig Wissen über Haltungssysteme haben, sollten geeignete Bilder der Haltungsformen zur leichteren Verständlichkeit eingesetzt werden.
Punkt 6: Tierwohl-Washing unterbinden Die häufig missbräuchliche Verwendung von Begriffen wie ‚artgerecht‘, ‚tiergerecht‘ oder ‚hohes Tierwohl‘ sollte gesetzlich unterbunden werden; diese Begriffe sollten den höheren Haltungsformen (3-5) vorbehalten sein.
Punkt 7: Vertrauen in das System aufbauen – alle Stakeholder mitnehmen Vertrauen in das Label und eine Zertifizierung muss bei allen Stakeholdern, inkl. Verbraucher:innen aufgebaut werden. Dazu ist eine enge Kommunikation, insbesondere zwischen LEH und BMEL, notwendig.

* Unsere Überlegungen beruhen u.a. auf Studien und Diskussionen in den beiden Forschungsprojekten „SocialLab“ (gefördert vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) und „Analyse von Vermarktungswegen für Erzeugnisse einer nachhaltigen Nutztierhaltung am Beispiel Südniedersachsens“ (gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz).

Prof. Dr. Achim Spiller

Prof. Dr. Achim Spiller

Herr Spiller ist seit 2000 in Göttingen und leitet dort den Lehrstuhl Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Konsumentenverhalten, Nachhaltigkeitsmanagement und Tierwohl.

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