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Auch wenn alle Hebel in den nächsten Wochen in Bewegung gesetzt werden, bleibt die sachgerechte Lagerung der bald beginnenden Ernte in der Ukraine eine riesige Herausforderung.

Prof. Dr. Stephan von Cramon-TaubadelDepartment für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung

Getreidemärkte und Ernährungssicherheit am 90. Tag von Putins Krieg [1]

Zusammenfassung

In der Diskussion um die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine wird von einigen Beobachtern die Meinung geäußert, dass nicht Mengen und Knappheit die derzeit hohen Preise auf den Weltgetreidemärkten verursachen, sondern vielmehr die Spekulation. In diesem Zusammenhang wird u.a. eine kürzlich erschienene Studie der Heinrich-Böll-Stiftung zitiert.

Im folgenden Papier argumentiere ich, dass die Ergebnisse dieser Studie irreführend sind, weil sie auf einem Modellansatz beruhen, der wesentliche Aspekte der Funktionsweise der internationalen Getreidemärkte nicht adäquat abbildet. Die Weltmarktpreise für Getreide reagieren kurzfristig wesentlich empfindlicher auf Mengenänderungen, als es die Ergebnisse der Böll-Studie suggerieren. Zudem liegen derzeit keine stichhaltigen Beweise dafür vor, dass die zuletzt erfolgten Preisanstiege überwiegend auf Spekulation zurückzuführen sind.

Im zweiten Abschnitt dieses Papiers gehe ich kurz auf den Export von Getreide aus der Ukraine ein. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wieviel alterntiges Getreide derzeit in der Ukraine lagert – in den Medien werden Mengen zwischen 12 und 25 Mio. t genannt. Aber in einer Situation, in der jede Tonne zählt, ist klar, dass signifikante Mengen Getreide in der Ukraine vorhanden sind und nennenswert zur Entlastung der globalen Versorgungssituation beitragen könnten.

Alterntiges Getreide muss dringend in den nächsten Wochen aus der Ukraine abfließen, um Lagerkapazitäten für die bevorstehende Getreideernte zu räumen. Sonst drohen ein ‚Getreidestau‘, hohe Lagerverluste, sowie fehlende Einnahmen und Liquiditätsengpässe für Landwirte in der Ukraine, die die Aussaat im Herbst und somit die Ernte im Jahr 2023 zusätzlich einschränken würden. Der Landweg über die EU kann den Seeweg über die Schwarzmeerhäfen nicht vollständig ersetzen, aber durch die dringende Beseitigung verschiedener Schwachstellen in der Exportlogistik könnte er erheblich schneller und effektiver werden.

Einleitung

Bundeskanzler Scholz weist Putin in einem persönlichen Telefonat am 13. Mai „auf die Verantwortung Russlands für die globale Lebensmittellage“ hin.[2] Die globale Lebensmittelversorgung infolge der russischen Aggression steht oben auf der Tagesordnung der G7-Außenminister bei ihrem Treffen Mitte Mai in Weissenhaus.[3] Anlässlich ihres parallel verlaufenden Gipfels in Stuttgart verurteilen die G7-Agrarminister in Stuttgart „die von Russland aus geostrategischen Gründen auferlegten Ausfuhrbeschränkungen von Lebens- und Produktionsmitteln“.[4] Das Geschehen auf den globalen Agrarmärkten ist so hoch auf der politischen Agenda wie seit der sog. Agrarpreiskrise von 2007/08 nicht mehr. Leider ist der Anlass, wie auch damals 2007/08, ein tragischer – die globale Lebensmittelversorgung ist knapp, die Preise für Grundnahrungsmittel sind hoch und die Zahl der Hungernden weltweit steigt rapide an. Eine ohnehin angespannte Versorgungslage ist durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine zur globalen Krise geworden.

Am 7. März habe ich ein erstes Papier zu den Auswirkungen von Putins (versuchter) Invasion auf die globalen Getreidemärkte und die Versorgungssicherheit veröffentlicht.[5] Heute, zehn Wochen später, möchte ich zwei Themen aufgreifen, die für die Einschätzung der gegenwärtigen Lage und die zukünftigen Handlungsspielräume von Bedeutung sind.

1. Ukrainisches Getreide und Stilllegung in der EU – doch nicht so wichtig für die globale Versorgung?

Unter den kurzfristig umsetzbaren Reaktionen auf die Folgen des Angriffs auf die Ukraine wurde von einigen Beobachtern die Produktion auf Stilllegungsflächen in der EU vorgeschlagen. In einer Analyse im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung[6] werden „verschiedene Szenarien in Bezug auf eine Veränderung von Stilllegungsflächen in der EU … und deren Implikationen für globale Getreidemärkte bezüglich Produktionsmengen und Preisen“ (S. 5) berechnet. Die Autoren der Studie kommen mittels einfacher Modellrechnungen zum Schluss, dass sich eine Reduktion der Stilllegungsfläche in der EU „kaum auf den Weltmarktpreis auswirken“ würde, „da im globalen Maßstab nur eine geringe zusätzliche Ge­treidemenge auf den freiwerdenden Flächen produziert werden könnte” (S. 9).

Die Ergebnisse der Böll-Studie zeigen auch, dass die zuletzt beobachteten Preisanstiege auf den Weltgetreidemärkten wesentlich höher waren, als selbst ein kompletter Ernteausfall in der Ukraine gekoppelt mit einem Exportstopp Russlands laut Modellrechnungen auslösen würde. Die Autoren verweisen darauf, dass dies auf Faktoren wie gestiegene Energiekosten und Logistikengpässe zurückzuführen sei, die in ihren Berechnungen nicht berücksichtigt würden. Zudem schreiben sie, dass „Preiseffekte, die sich aus der aktuellen Unsicherheit und damit verbundener Spekulation im Sinne physischer Lagerhaltung wie auch an Warenterminmärkten ergeben können“ in ihren Berechnungen auch nicht eingegangen seien (S. 9).

M.E. besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse der Böll-Studie und insbesondere der Hinweis auf Spekulation zu einer Fehleinschätzung der gegenwärtigen Lage und möglicher Lösungswege führen könnte. Einige Beobachter in Politik und Zivilgesellschaft werden sich bei der Lektüre dieser Ergebnisse bestätigt sehen, weil sie schon immer behauptet haben, dass nicht Mengen und Knappheit das Geschehen auf den Weltgetreidemärkten bestimmen, sondern vielmehr die Spekulation. Die Ergebnisse der Böll-Studie sind allerdings irreführend, weil sie auf einem Modellansatz beruhen, der wesentliche Aspekte der Funktionsweise der globalen Getreidemärkte nicht adäquat abbildet.

Die Böll-Studie rechnet mit sog. Preiselastizitäten, die angeben, um wieviel Prozent die nachgefragten bzw. angebotenen Mengen auf einem Markt reagieren, wenn der Preis um ein Prozent steigt oder fällt.[7] Als relevanten Markt legen sie den gesamten Weltmarkt zugrunde. Da Mengenänderungen aufgrund einer Bewirtschaftung von Stilllegungsflächen in der EU oder selbst aufgrund eines kompletten Ernteausfalls in der Ukraine, nur zu kleinen prozentualen Änderungen der gesamten globalen Verfügbarkeiten führen, fallen die entsprechend berechneten Preisänderungen auch entsprechend klein aus.

Diese Berechnungen sind aus zwei miteinander verzahnten Gründen problematisch. Erstens, wenn die Autoren der Studie die gesamte globale Getreideproduktion als Bezugsgröße für die Berechnungen zugrunde legen, gehen sie implizit von vollkommen integrierten globalen Getreidemärkten aus. Mit anderen Worten, sie nehmen an, dass alle Getreideerzeuger und
-konsumenten in allen Ländern der Welt sofort auf eine Erhöhung der Weltmarktpreise reagieren, indem sie ihre Produktion ausdehnen bzw. ihren Konsum einschränken. Wenn dem so wäre, dann würden ein paar Millionen Tonnen mehr oder weniger von Stilllegungsflächen in der EU in der Tat eine vernachlässigbare Rolle spielen – verteilt auf mehrere Milliarden Erzeuger und Konsumenten könnten die Auswirkungen dieser fehlenden Mengen, könnte sogar selbst ein kompletter Ernteausfall in der Ukraine, vom immensen Weltmarkt über vielfältige Angebots- und Nachfragereaktionen relativ einfach abgepuffert werden.

Dem ist aber nicht so. Erzeuger und Konsumenten in vielen Ländern, darunter z.B. auch besonders gewichtige Akteure wie China oder Indien, spüren Preissignale vom Weltmarkt nicht oder nur stark gefiltert, vor allem weil Regierungen verschiedene agrar- und handelspolitische Instrumente wie Preisstützung, Lebensmittelsubventionen, Importzölle und Exportrestriktionen einsetzen, um ihre inländischen Märkte zu stabilisieren und ihre Bürger vor Preisschwankungen zu schützen. Folglich entfalten Mengenänderungen z.B. aufgrund der Bewirtschaftung von Stilllegungsflächen in der EU oder der Blockade und Zerstörung von ukrainischen Exporthäfen ihre kurzfristigen Wirkungen nicht auf dem kompletten Weltmarkt, sondern lediglich auf einem Teil davon. Dieser Teilmarkt, der für die kurzfristige Preisbildung relevant ist, umfasst einerseits die Länder, die derzeit auf Getreideimporte angewiesen sind, und andererseits die Länder, die Überschüsse bzw. Reserven haben und auch zum Angebot dieser bereit sind. Auf diesem vergleichsweise kleineren Teilmarkt haben schon relativ kleine Mengenänderungen eine wesentlich größere Hebelwirkung auf die Getreidepreise, als die Berechnungen in der Böll-Studie suggerieren.

Zweitens bilden die Berechnungen in der Böll-Studie die Politikreaktionen nicht ab, die in vielen Ländern der Welt durch Preissteigerungen ausgelöst werden und diese erheblich verstärken können. Die Weltmarktpreise für Getreide steigen schon seit etwa Mitte 2020 an, besonders stark seit Mitte 2021. Das hat aber in vielen Ländern der Welt nicht zu den Reaktionen geführt, die unter Lehrbuchbedingungen zu erwarten wären und die bei den Berechnungen von den Autoren der Böll-Studie angenommen worden sind (Einschränkung des Konsums, Ausdehnung des Angebots). Ganz im Gegenteil, in Erwartung noch weiter steigender Weltmarktpreise haben viele Exportländer ihr Angebot auf dem Weltmarkt eingeschränkt und viele Importländer versuchen ihre Einfuhr auszudehnen. Putins Krieg und die dadurch ausgelösten Erwartungen einer anhaltenden Knappheit auf den Weltgetreidemärkten haben diese aus ökonomischer Sicht ‚perversen‘ Reaktionen gestärkt. Das International Food Policy Research Institute (IFPRI) führt eine laufende und immer länger werdende Liste von geltenden Exportverboten und -restriktionen für Lebensmittel[8]; hinzukommen Zollsenkungen und verstärkte Lagerbildung seitens derjenigen Importländer, die sich solche Maßnahmen finanziell leisten können, und sogar Hamsterkäufe von Konsumenten in wohlhabenden Ländern wie Deutschland. Durch verunsicherte Entscheidungsträger in vielen Ländern verhalten sich auch die Weltgetreidemärkte somit vollkommen anders, als in den Berechnungen der Böll-Studie angenommen.[9]

Beide oben genannten Faktoren – erstens die Tatsache, dass der gesamte Getreideweltmarkt keine angemessene Bezugsgröße für Berechnungen von kurzfristigen Preisanpassungen darstellt, und zweitens die fehlende Berücksichtigung von durch Preissteigerungen verursachten Politikreaktionen – sind eng miteinander verzahnt. Preissteigerungen lösen nationale Abschottungsversuche aus, die den relevanten Teilmarkt, auf dem die Weltmarktpreise gebildet werden, immer kleiner werden lassen. Während z.B. Anfang März noch von Gesprächen über Weizenlieferungen von Indien nach Ägypten berichtet wurde, hat Indien am 13. Mai ein Exportstopp für Weizen verhängt und somit den Weltmarktpreisen einen weiteren kräftigen Schub nach oben versetzt.[10] Die Folge solcher Politikreaktionen sind Preise, die zunehmend empfindlich auf vermeintlich kleinere Veränderungen der tatsächlichen und erwarteten Verfügbarkeiten reagieren. Appelle wie aus der Runde der G7-Agrarminister („Die G7 bekennen sich dazu, die Märkte zu stabilisieren. Sie sprechen sich gegen Exportstopps aus und rufen dazu auf, die Märkte offen zu halten…“[11]) können letztlich als – leider anscheinend vergeblicher – Versuch verstanden werden, einen möglichst großen integrierten Weltmarkt als Puffer aufrechtzuerhalten, damit die Preiswirkungen der von Putins Krieg ausgelösten Knappheit nicht noch zusätzlich verstärkt werden.

Kurz: Die Weltmarktpreise für Getreide reagieren kurzfristig wesentlich empfindlicher auf Mengenänderungen, als es die Ergebnisse der Böll-Studie suggerieren. Und die Böll-Studie liefert auch nicht den geringsten Beweis dafür, dass die zuletzt erfolgten Preisanstiege überwiegend auf ‚Spekulation‘ zurückzuführen sind. Ich möchte nicht auszuschließen, dass auch Spekulation eine gewisse Rolle spielt, aber um diese zu quantifizieren und angemessene Politikempfehlungen abzuleiten, bedarf es einer detaillierten und differenzierten Analyse. Bisher liefert die wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema keine überzeugenden Beweise für eine signifikant preissteigernde Rolle der Spekulation.

Auch wenn ich mit meiner geäußerten Einschätzung über die Böll-Studie unrecht haben sollte und die Produktion auf Stilllegungsflächen in der EU tatsächlich nur sehr geringe Weltmarktpreisesenkungen auslösen würde, können selbst kleine Preissenkungen schon entlastend wirken, um Leid zu mindern und Leben zu retten. In der Not, die derzeit herrscht und voraussichtlich mindestens bis zur Ernte 2023 anhalten wird, kommt es auf jede Tonne an. Und wer argumentiert, dass EU-Stilllegungsflächen für die globale Lebensmittelversorgung keine wesentliche Rolle spielten, müsste vermutlich ebenso zugestehen, dass es für die globale Umwelt auch kaum ins Gewicht fiele, ob diese Flächen in den nächsten 1-2 Jahren bewirtschaftet oder stillgelegt würden. Diesen Zielkonflikt müssen wir individuell und letztlich kollektiv abwägen, um zu entscheiden, welche Prioritäten kurzfristig und langfristig zu setzen sind.

2. Getreidemengen in der Ukraine, Getreidelogistik und -lagerung

Auf dem Gipfel der G7-Agrarminister in Stuttgart Mitte Mai wurde viel über Getreideexporte aus der Ukraine gesprochen. Zum einen geht es um Getreide, das 2021 in der Ukraine geerntet wurde und das Land aufgrund des russischen Angriffs – durch die Blockade und Zerstörung von Häfen und anderer Exportinfrastruktur – bisher nicht verlassen konnte. Zum anderen geht es um die in wenigen Wochen beginnende Ernte 2022 in der Ukraine. Diese Ernte wird wesentlich geringer ausfallen, als vor dem russischen Angriff erwartet wurde, aber immerhin geschätzt 48 Mio. t umfassen, die auf den Weltmärkten dringend gebraucht werden.[12] Zum Vergleich: Im Jahr 2021 hat die Ukraine ca. 86 Mio. t Getreide geerntet.

Wieviel alterntiges Getreide lagert derzeit noch in der Ukraine? Es werden viele unterschiedliche Zahlen genannt. Während der ukrainischer Agrarminister Mykola Solskyi am 13. Mai von 20 Mio. t sprach[13], war auf dem G7-Agrarministertreffen von 25 Mio. t die Rede.[14] Am 10. Mai zitierte Reuters „Ukrainian agricultural officials“, die von exportfähigen 12 Mio. t Getreide ausgehen.[15] Im am 12. Mai veröffentlichen WASDE-Bericht schätzt das amerikanische Landwirtschaftsministerium (USDA), dass die ukrainischen Bestände am Ende des bald ablaufenden Vermarktungsjahres ca. 13,4 Mio. t betragen werden.[16] Wenn das USDA recht hat, dann können die o.g. 20 oder 25 Mio. t kaum stimmen, denn um von solche Mengen auf Endbestände von 13,4 Mio t. zu kommen, müsste innerhalb von 2-3 Monaten viel mehr exportiert werden als gegenwärtig möglich erscheint (das Vermarktungsjahr für Weizen und Gerste endet am 30. Juni, das für Mais am 31. August). Alle Zahlen sind mit Unsicherheit behaftet, da niemand genau weiß, wieviel Getreide insbesondere in den umkämpften Gebieten lagert und wieviel seit Kriegsbeginn zerstört oder entwendet worden ist. Bei manchen Schätzungen handelt es sich womöglich um Zielvorstellungen für den Getreideexport insgesamt bei der alt- und neuerntiges Getreide vermischt werden.

Ob nun noch 12 Mio. t oder sogar doppelt so viel alterntiges Getreide exportiert werden kann: in einer Situation, in der jede Tonne zählt, ist klar, dass signifikante Mengen Getreide in der Ukraine vorhanden sind und nennenswert zur Entlastung der globalen Versorgungssituation beitragen könnten. Alterntiges Getreide muss dringend in den nächsten Wochen aus der Ukraine abfließen, um Lagerkapazitäten für die bevorstehende Getreideernte zu räumen. Eile ist auch deswegen geboten, weil die einzig derzeit praktikablen Vermarktungswege für ukrainisches Getreide über die EU verlaufen, z.B. per Bahn und Lastwagen in Richtung Ostseehäfen wie Gdansk, Rostock und Hamburg oder über die Südroute zu den Häfen in Rumänien und Bulgarien. Derzeit ist die dafür notwendige Schüttgutlogistik in der EU nicht voll ausgelastet – d.h. es stehen gewisse Kapazitäten frei für die Vermarktung von Getreide aus der Ukraine. Im April konnten ca. 1 Mio. t ukrainisches Getreide auf diesem Weg exportiert werden, aber Experten zufolge wären monatlich 2 bis 3 Mio. t möglich. Mit Beginn der Ernte in der EU in ca. 2 Monaten wird die Schüttgutlogistik in der EU indes mit einheimischem Getreide voll ausgelastet sein und es wird kaum noch Kapazität für ukrainische Exporte geben. Es droht dann ein ‚Getreidestau‘ und damit verbundene Quantitäts- und Qualitätsverluste bei unsachgerechter Lagerung noch vorhandenen alterntigen sowie neuerntigen Getreides in der Ukraine. Hinzu kommen fehlende Einnahmen und Liquiditätsengpässe für Landwirte in der Ukraine, die die Aussaat imHerbst und somit die Ernte im Jahr 2023 zusätzlich einschränken würden.

Warum fließt ukrainisches Getreide auf dem Landweg nicht so schnell wie möglich ab und wie könnte die Lage kurzfristig verbessert werden? Getreidehandel ist vor allem eine Frage der Logistik, da die räumliche Verteilung der Produktion einerseits und des Verbrauchs andererseits sich national, regional und global sehr stark unterscheiden. In der Logistik wiederum bestimmt das schwächste Glied die Kapazität der gesamten Kette; Logistik ist somit in erster Linie eine Frage der Schwachstellenanalyse. Folgende Schwachstellen könnten und sollten sofort adressiert werden, um den ukrainischen Getreideexport zu beschleunigen:

  • Importbeschränkungen für Weizen und Gerste: Raps- und Sonnenblumenprodukte können ohne Beschränkungen in die EU importiert werden. Für Mais gilt der variable Importzoll, der bei den derzeit sehr hohen Preisen nicht greift. Aber für Weizen und Gerste galten bis zum 19. Mai prohibitiv hohe Importzölle in Verbindung mit zollfreien Kontingenten für die Ukraine im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der EU (DCFTA) und einigen weiteren allgemeinen Zollkontingenten. Hohe Importzölle sollen den EU-Binnenmarkt vor preisgünstigen Importen schützen. Ein solcher Schutz wird derzeit nicht benötigt; die Zollbelastung geht letztlich zulasten der ukrainischen Landwirte und trägt zu Verzögerungen bei der Abwicklung an der Grenze zur EU bei. Die am 19. Mai beschlossene Abschaffung der EU-Importrestriktionen für ukrainisches Getreide ist sehr zu begrüßen, hätte aber deutlich früher beschlossen werden sollen.
  • Die Zoll- und phytosanitäre Abwicklung an der EU-Grenze: Derzeit stehen LKWs drei Tage und mehr in beiden Richtungen an der Grenze zwischen der Ukraine und der EU – wertvolle Zeit, in der sie sonst weitere Ladungen befördern könnten. Es wird auch davon berichtet, dass Züge waggonweise abgefertigt werden. Eine auf z.B. ein Jahr begrenzte Lockerung dieser Vorschriften würde die Flaschenhälse lockern.
  • Da ukrainische LKWs in der Regel nur über die Abgasnorm Euro 2 verfügen, dürfen sie in der EU nicht fahren. LKW-Kapazitäten sind in der EU knapp und das Umladen an der Grenze kostet Zeit und Geld. Mit einer Ausnahmegenehmigung für zunächst ein halbes Jahr könnten ukrainische LKWs die Häfen an der Ostsee direkt ansteuern. Des Weiteren könnte das zulässige Gesamtgewicht der LKWs vorübergehend von 40 auf 44 Tonnen erhöht werden, was eine 15-prozentige Erhöhung der Zuladung von 26 auf 30 Tonnen ermöglichen würde. Natürlich sollten nur dafür zugelassene LKWs eine solche Genehmigung erhalten. Im sog. Kombiverkehr ist ohnehin schon ein zulässiges Gesamtgewicht von 44 t üblich, nur bisher nicht im Schüttgutverkehr.

Auch wenn alle Hebel in den nächsten Wochen in Bewegung gesetzt werden, bleibt die sachgerechte Lagerung der bald beginnenden Ernte in der Ukraine eine riesige Herausforderung. Einen möglichen Beitrag könnte der Einsatz von Silobags darstellen. Diese würden eine vorübergehende Lagerung direkt am Feldrand und somit eine Entzerrung der Logistik ermöglichen – neuerntiges Getreide müsste nicht sofort abgefahren werden und die entstehende dezentrale Lagerung wäre weniger anfällig für russische Raketenangriffe als die Lagerung in großen Lagerhallen und Elevatoren. Voraussetzung wäre eine Erntefeuchte der Getreidekörner von maximal 17-18%, die unter typischen ukrainischen Bedingungen ohne zusätzliche Trocknung (Energiekosten!) gegeben ist. Der Schutz vor Nagern und Vögeln müsste allerdings auch bedacht werden. Die Lagerung mit Silobags wird bereits in der Ukraine genutzt und könnte durch Materiallieferungen aus Deutschland bzw. der EU auch noch kurzfristig ausgeweitet werden. Silobags werden auf der ganzen Welt produziert – wenn schnell gehandelt wird, könnte zumindest einen Teil der neuen Ernte relativ sicher über einen gewissen Zeitraum zwischengelagert werden.

Fußnoten

[1] Stephan von Cramon-Taubadel, Department für Agrarökonomie und Rural Entwicklung, Universität Göttingen (scramon@gwdg.de).
[2] https://www.fr.de/panorama/ukraine-konflikt-telefonat-praesident-putin-bundeskanzler-scholz-zr-91544136.html.
[3] https://www.g7germany.de/resource/blob/997532/2039868/3de6a8a2ce40c6c13077c5e7e5c4ab58/2022-05-14-statement-russia-war-ukraine-data.pdf?download=1.
[4] https://www.g7germany.de/g7-de/aktuelles/g7-landwirtschaftsminister-2039880.
[5] https://agrardebatten.de/agrarzukunft/russias-invasion-of-ukraine-implications-for-grain-markets-and-food-security/
[6] Luckmann, J., Chemnitz, C. und Luckmann, O. (2022): Auswirkungen einer Änderung der Flächenstilllegung in der EU auf den globalen Getreidemarkt. Policy Paper, Heinrich-Böll-Stiftung, https://www.boell.de/sites/default/files/2022-03/E-Paper-Auswirkungen-Aenderung-Flaechenstilllegung-EU-auf-globalen-Getreidemarkt.pdf
[7] In der Böll-Studie wird von einer Eigenpreiselastizität der globalen Nachfrage nach Getreide von -0,3 und von einer Eigenpreiselastizität des globalen Getreideangebots von 0,3 ausgegangen. Die Berechnungen werden auch für Elastizitäten von -0,1 und 0,1 bzw. -0,5 und 0,5 durchgeführt, um die Robustheit der Ergebnisse zu prüfen. Da die Auswirkungen von Mengenänderungen auf die Preisentwicklung simuliert werden, wird in der Studie eigentlich mit den Kehrwerten dieser Preiselastizitäten, auch Preisflexibilitäten genannt, gearbeitet.
[8]https://public.tableau.com/app/profile/laborde6680/viz/ExportRestrictionsTracker/FoodExportRestrictionsTracker.
[9] In ökonomischer Sprache ausgedrückt: In der Böll-Studie werden lediglich Bewegungen entlang von Angebots- und Nachfragefunktionen als Folge eines Angebotsschocks simuliert. Dabei wird übersehen, dass sich diese Kurven in letzter Zeit stark verschieben – die (Import-)Nachfragekurve nach rechts, die (Export-)Angebotskurve nach links – als Folge von durch Anstiege der tatsächlich und zu erwartenden Preisen ausgelösten Verhaltensänderungen.
[10] https://www.business-standard.com/article/economy-policy/muted-impact-of-wheat-export-ban-on-india-s-domestic-food-inflation-nomura-122051500275_1.html.
[11] https://www.g7germany.de/g7-de/aktuelles/g7-landwirtschaftsminister-2039880.
[12] USDA WASDE-Bericht von Mai 2022. https://www.usda.gov/oce/commodity/wasde/wasde0522.pdf.
[13] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/getreide-g7-agrarminister-101.html.
[14] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/g7-landwirtschaftsminister-2039880.
[15] https://www.reuters.com/world/europe/ukraine-exported-over-1-million-tonnes-grain-april-despite-war-2022-05-09/.
[16] 5,61 Mio. t. Weizen und 7,77 Mio. t sonstiges Getreide. S. Fußnote 11.

Prof. Dr. Stephan v. Cramon-Taubadel

Prof. Dr. Stephan v. Cramon-Taubadel

Prof. Dr. Stephan von Cramon-Taubadel hat seit 1998 die Professur für Agrarpolitik des Departments für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der international vergleichende Agrarpolitik sowie der Integration von Märkten sowohl räumlich als auch vertikal entlang der Lebensmittelkette. Er ist außerdem Gast-Professor an der Universidad de Talca in Chile und der Nanjing Agricultural University in China, und Secretary-Treasurer der International Association of Agricultural Economists (IAAE)

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