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Verfasser*innen: Lukas Fesenfeld (ETH Zürich/UniversitätBern), Alexander Schrode (NAHhaft), Benjamin Leon Bodirsky (PIK/ World Vegetable Center), Dominic Lemken (Universität Göttingen), Marco Springmann (Oxford University), Linus Mattauch (TU Berlin), Lisa M. Pörtner (Charité Berlin/PIK), Felix Creutzig (TU Berlin), Hermine Mitter (BOKU), Janina Grabs (ESADE Business School), Peter von Philipsborn (LMU München), Florian Freund (Thünen Institut), Helen Engelhardt (NAHhaft), Irmgard Jordan(CIAT),Nathalie Lambrecht (Charité Berlin/PIK), Franziska Gaupp (PIK/EAT), Sabine Gabrysch (Charité Berlin/PIK), Hermann Lotze-Campen (PIK, HU Berlin), Guy Pe‘er (iDiv/UFZ), Sebastian Lakner (Universität Rostock)

07.04.2022 Am Ende des Artikels finden Sie eine Anmerkung zur Pressemitteilung vom 01.04.2022

Angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine rufen wir die Bundesregierung dazu auf, die Transformation des Ernährungssystems aktiv zu beschleunigen. Der Ukraine-Krieg führt zu steigenden Preisen von Lebensmitteln, Agrarrohstoffen und landwirtschaftlichen Produktionsmitteln (v.a. von Getreide, Ölsaaten, Futter- und Düngemitteln sowie Agrardiesel) *1. In zahlreichen Ländern des Globalen Südens droht deshalb eine Zunahme der Ernährungsunsicherheit und von damit einhergehender Unter- und Mangelernährung. Diese Entwicklungen verschärfen auch in Deutschland und der EU soziale Ungleichheiten in der Ernährung. Im Einklang mit dem aktuellen Aufruf von mehr als 600 Wissenschaftler*innen, sehen wir vor allem die Reduktion des Fleischverzehrs, der Lebensmittelabfälle und der Nutzung von Bioethanol als essentielle Chance, trotz des Ukraine-Krieges eine Zunahme von Mangel- und Unterernährung zu verhindern. Zeitgleich kann dies Klimaschutz, Artenvielfalt, langfristige Ernährungssicherheit und damit Gesundheit, wirtschaftliche Stabilität und Frieden fördern. Der aktuelle Krieg in der Ukraine erhöht somit nicht nur den politischen Handlungsdruck, sondern öffnet auch neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik. Von zentraler Bedeutung für eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist, dass produktions- und konsumseitige Maßnahmen wirksam ineinandergreifen. Die Bundesregierung sollte daher umgehend eine Strategie und konkrete Maßnahmen-Pakete zur Minderung des Fleischkonsums und -produktion, der Lebensmittelabfälle sowie Nutzung von Bioethanol (aus Energiepflanzenanbau) umsetzen. Im Folgenden stellen wir konkrete Handlungsoptionen auf Konsum- und Produktionsseite vor, die kurz- und mittelfristig besonders wirkungsvoll und umsetzbar sind.

Vorteile einer Transformation des Ernährungssystems

Die Transformation des Ernährungssystems würde angesichts des Ukraine-Krieges insbesondere kurz- und mittelfristig folgende Vorteile mit sich bringen:

  • Ernährungssicherheit: Eine Reduktion des Fleischkonsums, der Tierbestände, der Lebensmittelabfälle und der Nutzung von Bioethanol in Europa würde den Nachfragedruck auf die globalen Getreide- und Futtermittelmärkte reduzieren und somit zu einer Reduktion der Nahrungsmittelpreise beitragen. Aktuell droht in vielen Ländern des Globalen Südens eine dramatische Zunahme von Mangel- und Unterernährung. Das UN-Welternährungsprogramm bezieht einen Großteil seines Getreides aus der Ukraine und die steigenden Preise von Grundnahrungsmitteln treffen viele Entwicklungsländer besonders hart. Die rasche Reduktion der Lebensmittelabfälle würde die globale Ernährungssicherheit deutlich erhöhen – allein der in der EU vergeudete Weizen entspricht etwa den Weizenimporten aus der Ukraine. Zudem können durch die Minderung von Tierbeständen Flächen für den Futtermittelanbau eingespart werden *2. Ein geringerer Energiepflanzenanbau für die Produktion von Bioethanol würde ebenfalls Agrarflächen freimachen, um mehr pflanzliche Grundnahrungsmittel zu produzieren.
  • Klimawandel: Eine rasche Reduktion des Fleischkonsums, der Tierbestände sowie der Lebensmittelabfälle könnte zudem zeitnah zu einer deutlichen Reduktion der landwirtschaftlichen Treibhausgas-Emissionen führen. Dies kann einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz leisten und somit die Dilemmata zwischen Sicherheits- und Klimapolitik abmildern. Das Ernährungssystem, insbesondere die Produktion tierischer Produkte, ist für rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Eine Reduktion des Fleischkonsums und der Tierbestände ist kurz- bis mittelfristig besonders wertvoll, da die Tierproduktion für hohe Methanemissionen (ein kurzfristig besonders schädliches Treibhausgas) verantwortlich und weltweit größter Treiber von Entwaldung (z.B. in tropischen Wäldern wie dem Amazonas) ist. Eine rasche Reduktion der Methanemissionen und Abholzung kann helfen, das Überschreiten von Klima-Kipppunkten (trotz kurzfristig voraussichtlich steigender Kohlenutzung) zu vermeiden *3.
  • Sicherheitspolitik: Ein verringerter Bedarf an Futtermitteln und Erdgas-basiertem Mineraldünger reduziert die Abhängigkeit von Importen aus Krisenregionen und autokratisch regierten Ländern (wie z.B. Russland). Dies kann zu mehr Produktionssicherheit in Deutschland und Ernährungssicherheit weltweit beitragen.
  • Artenvielfalt und Naturschutz: Eine Reduktion des Fleischkonsums und der Tierbestände stärkt die Artenvielfalt und vermindert Interessenskonflikte zwischen Ernährungssicherheit und Naturschutz. Wir sehen die Entscheidung des BMEL vom 11.03.2022 sowie den Vorschlag der EU Kommission, als Ausnahmeregelung den Aufwuchs auf ökologischen Vorrangflächen der Kategorien „Brache“ und „Zwischenfrüchte“ als Futter freizugeben, kritisch. Grundsätzlich ist der Erhalt der ökologischen Vorrangflächen ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Artenvielfalt. Die Ausnahmeregelung sollte daher in den folgenden Jahren nicht verlängert werden. Stattdessen sollte der Bedarf an Futteranbauflächen durch geringere Tierbestände, weniger Nutzung von Bioethanol und reduzierte Lebensmittelabfälle verringert werden. Biodiversitätsverluste sind neben der Klimakrise eine existenzielle Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit.
  • Öffentliche Gesundheit: Eine Reduktion des durchschnittlichen Fleischverzehrs kann in Deutschland und anderen Ländern mit hohen Fleischkonsum in relevanten Maße zur Gesundheitsförderung beitragen. Der durchschnittliche Konsum von Fleisch in Deutschland und Europa liegt weit über den Empfehlungen für eine gesunde und nachhaltige Ernährung. Ein Viertel der vorzeitigen Todesfälle in Europa werden auf Fehlernährung zurückgeführt. Die Produktion tierischer Produkte kann zudem zur Entstehung von zoonotischen Krankheitserregern und Pandemien so wie der Verbreitung multiresistenter Bakterien beitragen.

Zentrale Handlungsmöglichkeiten für die Transformation des Ernährungssystems

Aus den genannten Gründen fordern wir die Bundesregierung dazu auf, zügig eine Strategie und konkrete Maßnahmenpakete zur Minderung des Fleischkonsums und -produktion, der Nutzung von Bioethanol sowie der Lebensmittelabfälle in Deutschland und in der EU zu entwickeln und umzusetzen.

Folgende kurz- (innerhalb der nächsten 12 Monate) und mittelfristigen (innerhalb dieser Legislaturperiode) Maßnahmen auf Konsum- und Produktionsseite *4 sind zentral für die Entwicklung und Umsetzung dieser Strategie auf bundes- und europapolitischer Ebene.

Wirkungsvolle und umsetzbare konsumseitige Maßnahmen

Kurzfristig sollte die Bundesregierung mit einem umfassenden Maßnahmenpaket dafür sorgen, dass in Deutschland die Nachfrage nach gesunden pflanzlichen Lebensmitteln steigt und die Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln sinkt. Kurzfristig sind folgende Punkte umsetzbar:

1.Angesichts der steigenden Lebensmittelpreise können gezielte Entlastungen beim Konsum von gesundheitsförderlichen pflanzlichen Lebensmitteln (z.B. reduzierte Mehrwertsteuern auf pflanzliche, gering verarbeitete Grundnahrungsmittel) Lenkungswirkung entfalten. Niedrige Einkommensgruppen, die besonders stark von höheren Preisen betroffen sind und proportional höhere Einkommensanteile für die Ernährung ausgeben, werden durch diese Maßnahme gezielt stärker entlastet.

2.Zur sozialpolitischen Entlastung sollten Tafeln und Sozialmärkte subventioniert sowie die Grundrente und die Grundsicherungsbeträge für Ernährung erhöht werden.

3.Ein Fond für die Förderung einer nachhaltigen und gesundheitsförderlichen Ernährung (z.B. im Einklang mit der Planetary Health Diet) in der Außer-Haus-Verpflegung (z.B. in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Betriebskantinen) sollte zeitnah verabschiedet werden. Mit diesem Fond sollten nachhaltige und gesundheitsförderliche Menüs in der Außer-Haus-Verpflegung gefördert werden. Zudem könnten aus dem Fond Nachhaltigkeits-Weiterbildungsinitiativen für das Küchenpersonal in Außer-Haus-Verpflegung finanziert werden. Die gezielte Beratung und Förderung der Betriebe würde mittelfristig (siehe Punkt 8) durch eine gesetzliche Verankerung dieser Richtlinien als Mindeststandards in Kantinen öffentlicher Betriebe ergänzt. Diese gesetzliche Ankündigung könnte bereits kurzfristig eine Angebotsanpassung in der Außer-Haus-Verpflegung beschleunigen.

4. Verbraucher, Produzenten, Einzelhändler und Betriebe der Außer-Haus-Verpflegung sollten gezielt informiert und unterstützt werden, um Lebensmittelabfälle rasch zu reduzieren *5. Hier können kleinere Verpackungs- und Mahlzeitengrößen, gezielte Beratungsangebote und Förderprogramme (z.B. für Betriebe sowie Informationskampagnen) kurzfristig umsetzbare Maßnahmen sein.

5. Die Entwicklung und Vermarktung von attraktiven, gesundheitsförderlichen und nachhaltigen Alternativen zu tierischen Produkten sollte gefördert werden. Die Förderung sollte jedoch an umweltfreundliche und gesundheitsförderliche Mindeststandards der Produkte geknüpft sein. Zudem sollte der regulatorische und rechtliche Rahmen die Produktion solcher Alternativen (im Vergleich zu tierischen Produkten) nicht benachteiligen. Dies würde auch den wirtschaftlichen Standort von Deutschland und Europa im globalen Lebensmittelmarkt stärken.

Mittelfristig sollte die Bundesregierung dann die Synergien mit den kurzfristigen Maßnahmen maximieren, in dem sie die Umsetzung folgender Punkte priorisiert:

6.Ein Anheben der Mehrwertsteuer auf tierische Produkte (z.B. auf den Regelsatz von 19%) ist ein wirkungsvoller Ansatz, um den Konsum tierischer Produkte zu reduzieren. Dabei ist jedoch zu beachten, dass im Gegensatz zu einer Steuer auf Emissionen, die Mehrwertsteuer keine Lenkungswirkung auf die Emissionsintensität der Tier- oder Futtermittelproduktion hat. Die Mehrwertsteuererhöhung sollte deshalb durch direkte Abgaben auf Emissionen (siehe Punkt 16) ergänzt werden. Einkommensschwächere Haushalte sollten zudem begleitend durch gezielte Maßnahmen (z.B. Klima-Dividenden, reduzierte Mehrwertsteuern auf pflanzliche Produkte, erhöhte Grundsicherungsbeträge) entlastet werden, um die gewünschte Lenkungswirkung, Sozialverträglichkeit und politische Akzeptanz zu erhöhen (siehe Punkt 1).

7.Die Einführung eines staatlichen Umwelt-Labels für Lebensmittelprodukte kann die alltägliche Kaufentscheidung der Konsument*innen vereinfachen, über die Umweltbilanz von Lebensmitteln informieren und einen umweltfreundlichen und gesundheitsfördernden Lebensmittelkonsum fördern.

8.Die gesetzliche Verankerung von nachhaltiger und gesundheitsförderlichen Mindeststandards in Kantinen öffentlicher Betriebe (in Kombination mit gezielten Subventionen des Verkaufs nachhaltiger und gesundheitsfördernder Lebensmittel in der privaten Außer-Haus-Verpflegung, siehe Punkt 3) ist ein wirkungsvolles Instrument, um das Konsumverhalten nachhaltig zu verändern.

9.Die bereits laufende Überarbeitung der Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollte gezielt unterstützt werden, um in diesen Empfehlungen Nachhaltigkeitsdimensionen noch umfassender und wirkungsvoller zu berücksichtigen (z.B. im Einklang mit der Planetary Health Diet).

10.Trotz der enormen Wirkung auf die menschliche Gesundheit ist die Förderung gesunder Ernährung bisher noch nicht ausreichend in unserem Gesundheitssystem verankert. Der gesetzliche Rahmen für Krankenkassen sollte angepasst werden, um den Einsatz von Ernährung in der Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten umfassender als bislang zu ermöglichen. Weiterhin sollte Ernährungsbildung besser in die schulische Bildung und die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen integriert werden.

11.Die wichtige Rolle des Ernährungssystems im Klimaschutz muss stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit gebracht werden. Das Ernährungssystem sollte explizit in den nationalen Klimaschutzbeiträgen (NDCs) erwähnt werden, die die Beiträge Deutschlands und der EU zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens ausweisen.

Wirkungsvolle und umsetzbare produktionsseitige Maßnahmen

Veränderungen auf der Nachfrageseite sollten von produktionsseitigen Maßnahmen begleitet werden, um eine Transformation des Ernährungssystems zu beschleunigen und Synergien zu maximieren. Dabei gibt es kurzfristige Maßnahmen, welche die aktuelle Krise mildern können und mittelfristig einführbare Maßnahmen, um zukünftigen Krisen vorzubeugen.

Kurzfristig besonders sinnvoll wären folgende produktionsseitige Maßnahmen:

12. Damit kurzfristig der Erhalt von landwirtschaftlichen Betrieben sichergestellt wird, sollten umstellungswillige Betriebe zeitnah finanziell und logistisch umfassend und mit geringem administrativem Aufwand unterstützt werden, ihre Produktion und ihre Bewirtschaftungsverfahren anzupassen (v.a. Anpassung der Tierzahlen an die Flächenausstattung und artgerechte Tierhaltung, Effizienzsteigerung durch Technologien wie bspw. Präzisionslandwirtschaft, Steigerung der Produktionsflächen für pflanzliche Lebensmittel für den direkten menschlichen Konsum auf Kosten von Futtermitteln, Extensivierung, Schutz von Moorflächen). Der Abbau von Überkapazitäten in der Tierhaltung könnte beispielsweise kurzfristig durch konditionale Umbauprämien unterstützt werden. Hierbei ist darauf zu achten, dass Betriebsspaltungen verhindert werden. Ziel dieser umfassenden Förderung wäre es, den Umbau zu höheren Tierwohlstandards von existierenden Tierhaltungsanlagen (nicht von Neubauten) unbürokratisch und großzügig zu unterstützen – jedoch nur unter der Bedingung, dass anschließend die Anlagen deutlich geringere Tierzahlen im Vergleich zur Flächenausstattung des Betriebs (Großvieheinheiten/ha) aufweisen.

13.Die Bundesregierung sollte auf EU-Ebene rasch darauf hinwirken, dass die Mittel aus der europäischen Agrarpolitik im Einklang mit der Farm-to-Fork Strategie gezielt für Maßnahmen mit positiven Umwelt- und Klimawirkungen eingesetzt werden. Wichtige Maßnahmen sind der verstärkte Anbau pflanzlicher Lebensmittel für den menschlichen Konsum (v.a. Hülsenfrüchte), eine Reduktion des Futtermittelanbaus, und die gezielte Förderung von Stickstofffixierern (z.B. Körnerleguminosen und Gründüngung). Dies sind wichtige Schritte, um die Abhängigkeit von Mineraldüngern zu reduzieren, der Bodendegradation entgegenzuwirken und die Lebensmittelproduktion damit krisenresilienter zu machen. Vielfältige Fruchtfolgen mit einem höheren Anteil an Leguminosen würden auch helfen, dem Biodiversitätsverlust entgegenzuwirken.

14.Kurzfristig sollte angesichts des Ukraine-Krieges zügig eine Anpassung und Umleitung der Produktion von Agrarprodukten für Bioethanol und Biodiesel in die Lebensmittelproduktion umgesetzt werden. Wirkungsvoll ist hier beispielsweise rasch die Beimischungsquote zu reduzieren.

Mittelfristig sind folgende produktionsseitige Maßnahmen sinnvolle Ergänzungen:

15.Die Einführung einer verbindlichen Flächenbindung in der Tierhaltung sowie erhöhter gesetzlicher Tierwohlstandards sind besonders wirkungsvolle Maßnahmen zur nachhaltigen Ausrichtung der Landwirtschaft. Da diese Maßnahmen mit erheblichen Umstrukturierungen in landwirtschaftlichen Betrieben einhergehen, müsste sie mit zielgerichteten Kompensations- und Fördermaßnahmen kombiniert werden (siehe Punkt 12). Die Machbarkeit dieser Maßnahmen sind zudem deutlich höher, wenn kurzfristig bereits eine größere Anzahl an Betrieben durch eine Umstellungsprämie die Tierzahlen reduziert hat und somit eine verbindliche Flächenbindung und verbesserte Haltungsbedingungen einfacher umsetzen könnte.

16.Eine besonders zielgerichtete (jedoch auch aufwendigere) Maßnahme wäre die Einführung einer Abgabe direkt auf Stickstoffüberschüsse, Methan und CO2- Emissionen aus der landwirtschaftlichen Produktion inkl. Tierhaltung. Eine Stickstoffüberschuss-Abgabe würde z.B. zielgerichtet die Emissionen von Nitrat, Ammoniak und Lachgas aus organischen wie inorganischen Quellen senken und die Abhängigkeit von fossilem Stickstoff reduzieren. Da die Umweltschäden von Stickstoff größtenteils lokal oder regional sind, können hier merkliche Verbesserungen der Umweltqualität auch auf nationaler Ebene erreicht werden.
Die Steuern auf Stickstoff, Methan und CO2 verteuern Produkte gemäß ihrer Emissionsintensität in der gesamten Versorgungskette, und sind somit auch ein wirkungsvolles Instrument, um Tierhaltung in der Fläche zu verteilen sowie Tierbestände und Lebensmittelabfälle zu reduzieren.

17.Sowohl Steuern also auch Produktionsvorschriften verteuern die landwirtschaftliche Produktion. Daher sollte schnellstmöglich ein entsprechendes „Border Adjustment“ an der EU-Außengrenze eingeführt werden und entsprechende Kapitel in Handelsverträgen gestärkt werden, um Standards in der EU (siehe z.B. Punkt 15 und 16) nicht zu unterlaufen, keine erhöhten Emissionen in Importländern außerhalb der EU (sog. Leakage) zu verursachen und global Anreize für nachhaltige Landnutzung und Bewirtschaftungsverfahren zu erhöhen.

Grundsätze bei der Strategieentwicklung und Umsetzung der Maßnahmen

Grundsätzlich sollte sich die Bundesregierung im Austausch mit den Regierungen anderer EU-Länder gemeinsam für die Umsetzung der Maßnahmen in anderen EU-Ländern sowie auf der EU-Ebene stark machen (z.B. im Rahmen der gemeinsamen EU Agrarpolitik sowie des Farm-to-Fork Monitoring Frameworks). Dabei kann eine sinnvolle Kombination und Abfolge von kurz- und mittelfristigen Einzelmaßnahmen in umfassenden Paketen sowohl die (technische, soziale, wirtschaftliche, politische) Machbarkeit, Effizienz als auch Wirksamkeit einer grundlegenden Transformation des Ernährungssystems erhöhen *6. Um die Effektivität, Effizienz sowie Umsetzbarkeit zu stärken, ist es besonders ratsam, Synergieeffekte zwischen Einzelmaßnahmen über die Zeit zu maximieren. Kurzfristig (konditional) fördernde Maßnahmen (z.B. Umbauprämien) zu priorisieren und diese mittelfristig mit stärker fordernden Maßnahmen (z.B. Flächenbindung) zu kombinieren, erhöht nachweislich die Effektivität, Effizienz und Machbarkeit. Eine strategische Kombination von kurz- und mittelfristigen Maßnahmen kann zudem sogenannte positive Kipppunkt-Dynamiken im Transformationsprozess auslösen und somit die notwendige Veränderung beschleunigen.

Die Einführung eines solch umfassenden Maßnahmen-Bündels sollte durch eine breitangelegte Informations- und Bildungskampagne – u.a. in Bildungseinrichtungen, Behörden und Betrieben – begleitet werden. Die aktuelle Forschung zeigt, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung bereit ist, auch kostenintensive Maßnahmen-Bündel mitzutragen, solange die Kosten sozial gerecht verteilt werden, Maßnahmen sowohl auf der Produktions- als auch Konsumseite greifen, und die Bürger*innen den Grund für die Einführung der Maßnahmen nachvollziehen können.

Der aktuelle Krieg in der Ukraine, steigende Agrar- und Nahrungsmittelpreise sowie eine drohende Zunahme von Mangel- und Unterernährung erhöhen somit nicht nur den politischen Handlungsdruck, sondern öffnen auch neue Handlungsoptionen für eine strategische Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungspolitik, um gleichzeitig der Erreichung verschiedener nachhaltiger Entwicklungsziele wie Klimaschutz, öffentliche Gesundheit, Frieden, wirtschaftliche Entwicklung und Ernährungssicherheit näherzukommen.

Fußnoten:

*1 Russland und die Ukraine sind zusammen für 30% der globalen Weizenproduktion verantwortlich und Europas Tierproduktion hängt maßgeblich von Futtermittel- und Stickstoffimporten aus Russland und der Ukraine ab.
*2 Ein Großteil der deutschen und europäischen Getreideproduktion wird als Futtermittel genutzt.
*3 Eine Demethanisierung ist für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels besonders wichtig, wie auch zahlreiche Staaten auf der letzten Klimakonferenz bekundeten und dafür eine besondere Methan-Strategie beschlossen haben.
*4 Diese Punkte beruhen schwerpunktmäßig auf folgenden Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz, des Umweltbundesamtes und des BMBF-geförderten Policy Evaluation Networks (PEN):
https://www.bmel.de/DE/ministerium/organisation/beiraete/agr-veroeffentlichungen.html, https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-gutachten-nachhaltige-ernaehrung-kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=2 und https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/479/publikationen/texte_160-2021_transformationsorientierte_umweltpolitik_fuer_einen_sozial-oekologischen_wandel_des_ernaehrungssystems_in_deutschland.pdf sowie https://www.jpi-pen.eu/images/reports/Food-EPI_Ergebnisbericht_V11.pdf 
*5 Alleine die Menge an Weizen, der in der EU durch Lebensmittelabfälle verloren geht entspricht ca. 50% der Weizenexporte aus der Ukraine.
*6  https://www.nature.com/articles/s43016-020-0047-4 & https://www.nature.com/articles/s43016-022-00460-8 

Kontakt:

Dr. Lukas Felsenfeld
Universität Bern
Institut für Politikwissenschaft
Fabrikstrasse 8, 3012 Bern, Schweiz
E-Mail: lukas.fesenfeld@unibe.ch

Dr. Dominic Lemken
Georg-August-Universität Göttingen
Fakultät für Agrarwissenschaften
Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte
Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen
E-Mail: dlemken@gwdg.de

07.04.2022 Anmerkung zur Pressemitteilung vom 01.04.2022:

So heißt es in der Pressemitteilung:

„Laut des offenen Briefes könnten die derzeit für die Bioethanol-, Futtermittel- und Tierproduktion genutzten Agrarflächen verstärkt für den Anbau pflanzlicher Lebensmittel für den menschlichen Konsum genutzt werden. Zur Veranschaulichung: Rund 10 Quadratmeter Ackerfläche bringen entweder Getreide für zirka 1 Kilogramm Schweinefleisch oder für mindestens 10 Kilogramm Brot für die Welt. Flankierend müssten die produzierenden Betriebe ausreichend bei der Umstellung unterstützt werden, so die Forscherinnen und Forscher.“

Die Angaben beruhen auf folgender Beispielrechnung:
10 Quadratmeter Ackerfläche erzeugen im Mittel rund 7,3 kg Weizen (7,3 t/ha in 2021, Destatis).
Zum Brot: Für 10 kg Vollkornbrot benötigt man rund 7,5 kg Weizen. Der Gewichtsunterschied entsteht durch das Hinzufügen von Wasser (was natürlich analog auch bei der Schweinefleischproduktion geschieht).

Zum Schweinefleisch: Hier legen wir Berechnungen von Vaclav Smil zu Grunde, der sich auf Daten des US Department of Agriculture stützt (Smil 2013). Die Daten sind im Groben auf den deutschen Kontext übertragbar, so geht er von einem Futteraufwand pro Gewichtszuwachs bei Mastschweinen von 2.5 bis 3.5 aus. Die niedrigere Futtereffizienz kommt hingegen durch eine Betrachtung des gesamten Produktionssystems, insbesondere durch (a) Futtereffizienzraten orientiert am Markt statt an idealen Bedingungen, (b) Futterbedarf inklusive Ferkel und Muttersäue anstatt nur Mastschweine, (c) Berücksichtigung von Krankheiten und Tierverlusten, (d) unter der Annahme handelsüblicher Futtermittel. Es ergibt sich für Schweinefleisch eine Konversion von 1 zu 5, d.h. 5 Kilogramm Futtermittel erzeugen 1 kg Schlachtmasse. Da nur rund 80% des Tieres essbar sind und rund 55% Muskelmasse, bzw. Schweinefleisch erzeugt werden, ergibt sich ein Veredelungsfaktor von rund 1 zu 6, bzw. 1 zu 9, den wir auf die erzeugte Getreidemenge umlegen.

Nährwertunterschiede von Brot und Schweinefleisch und Qualität des Weizens bleiben in der Rechnung unberücksichtigt. Die genauen Angaben können je nach Produktionssystem erheblich variieren und hängen unter anderen von Wurfgrößen, Rassen und Wachstumsleistung ab.

Quellen:
Destatis (2021): Feldfrüchte und Grünland – Anbauflächen, Hektarerträge und Erntemengen ausgewählter Anbaukulturen im Zeitvergleich, online verfügbar: https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Feldfruechte-Gruenland/Tabellen/liste-feldfruechte-zeitreihe.html
Smil, V. 2013. Should We Eat Meat?: Evolution and Consequences of Modern Carnivory. Wiley.

3 Comments

  • Ich kann die meisten Handlungsempfehlungen des „Offenen Briefs“ unterstützen. Besonders gefallen haben mir die „Grundsätze bei der Strategieentwicklung und Umsetzung der Maßnahmen“. Einige Empfehlungen möchte ich jedoch nachfolgend kritisch kommentieren:

    Kurzfristige Maßnahmen:
    Zu 3. Die von der EAT-LANCET-Kommission erarbeitete „Planetary Health Diet“ lässt einen erheblichen Spielraum zu, und die gesetzten Systemgrenzen (z.B. Ausblendung der positiven Wirkungen der Weidehaltung  von Wiederkäuern auf die Kohlenstoffspeicherung des Grünlands und die Biodiversität) und die Basis für die Vergleiche (z.B. wenig Berücksichtigung der Nährstoffdichte und der Mikronährstoffe) kann man durchaus hinterfragen. Jedenfalls müssten die von der EAT-Lancet-Kommission erarbeiteten Empfehlungen erst einmal in konkrete Zielzahlen übersetzt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung tut dies derzeit, speziell für die Gemeinschaftsverpflegung. Eine Verankerung der DGE-Richtlinien in den Standards für die Gemeinschaftsverpflegung ist sinnvoll, eine gesetzliche Fixierung sehe ich dagegen kritisch und auch als nicht erforderlich an, zumal sich die Gemeinschaftsverpflegung ohnehin schon „auf den Weg gemacht hat“. Wichtiger wäre es z.B., das Vergaberecht so zu ändern, dass regionale Strukturen und „Frisch-Küche“ gefördert werden statt z.B. zentrale Herstellung und Ferntransport von Mahlzeiten durch Billiganbieter.
    Zu 4. Zum Thema Lebensmittelverschwendung habe ich in meinem aktiven Berufsleben mehrere Projekte betreut und in Arbeitsgruppen mitgewirkt. Insgesamt sehe ich hier wenig sinnvolle Möglichkeiten weiterer staatlicher Eingriffe, außer vielleicht in dem einen oder anderen Fall die Schaffung von mehr Rechtssicherheit und das Streichen von Regelungen, die die Weitergabe an Lebensmitteln behindern, ohne dass sie die Lebensmittelsicherheit nennenswert verbessern. Beratungs- und Förderangebote gibt es bereits, an Informationsangeboten fehlt es nicht. Man kommt aus meiner Sicht nur weiter über die Förderung von Alltagskompetenzen (und entsprechende Integration in die schulische Bildung), insbesondere im Bereich Ernährung und Lebensmittel.
    Zu 5. Sicher, wir brauchen bessere Produkte auf pflanzlicher Basis, will man Milch- und Fleischprodukte ersetzen. Aber es fließt schon viel Geld (auch und gerade von privaten Investoren einschließlich Unternehmen der Fleischbranche) in die Entwicklung besserer pflanzlicher Lebensmittel, inwieweit muss man da noch öffentliche Mittel einsetzen? Sollten diese nicht eher in die (vorwettbewerbliche) Grundlagenforschung gehen sowie in die Verbesserung der Datenbasis für die Nachhaltigkeitsbewertung?

    Mittelfristige Maßnahmen:
    Zu 6. und 16. Eine Methanabgabe halte ich (gelinde gesagt) für problematisch, denn mangels anderer Erfassungsmöglichkeiten für die Methanemission auf Betriebsebene wird diese auf eine Art „Kopfsteuer“ auf Wiederkäuer hinauslaufen, was wiederum intensive Haltungsformen begünstigt, die ja unter den Aspekten der Tiergesundheit und der Förderung der Weidehaltung kritisch zu sehen sind.
    Grundsätzlich sinnvoll wäre in der Tat eine Stickstoff-Überschuss-Abgabe, wenn diese praktisch umzusetzen ist und die benötigten Daten rechtssicher mit vertretbarem Aufwand erfasst werden können.
    Zu 7. Für ein staatliches Umwelt-Label müsste man erst einmal die Datenbasis so verbessern, das ein fairer Vergleich möglich ist (siehe Anmerkung zu 3.). Außerdem sehe ich die Gefahr, dass solche Labels die Verantwortung wieder zu sehr den Verbraucher/innen zuschieben, was leicht in Widerspruch zum WBAE-Gutachten „Politik für eine nachhaltigere Ernährung“ gerät. Aber der derzeitige Wildwuchs an Labeln und Claims bezüglich Klimafreundlichkeit und Nachhaltigkeit birgt die Gefahr der Irreführung der Verbraucher/innen, was wiederum den Staat auf den Plan rufen sollte.
    Zu 8: Siehe Anmerkung zu 3.
    Zu 10. Im Grundsatz zwar Zustimmung, aber man sollte den Effekt der Ernährungsberatung auf das Kauf- und Essverhalten nicht überschätzen. 

    PS: Ich habe den Aufruf „We need a food system transformation“ mit unterzeichnet (auch wenn ich im Abschnitt 1 „Accelerate the shift towards healthier diets and less animal products …“ einiges anders formuliert hätte).

  • Dominic Lemken sagt:

    Lieber Herr Lücke,

    herzlichen Dank für die kritische Betrachtung der Maßnahmenvorschläge. Wir versuchen solche und andere Anmerkungen zeitnah im Kreis der Autoren zu diskutieren. Diese Anmerkungen helfen natürlich der Ausgestaltung der Maßnahmen.

    Aufgrund meiner Forschungserfahrung möchte ich den Punkt 7 gerne vertiefen. Das Thema Datenbasis wird tatsächlich allmählich in D angegangen. EU-weit gibt es hier einige Vorreiter, z.B. Agribalyse (Frankreich). Aus unserer Perspektive ist klar, dass ein solches Label nicht andere Maßnahmen ersetzt und somit alleinig auf Verbraucherverhalten baut, sondern nur ein Maßnahmen Mix, wie wir ihn hier vorstellen, die Transformation des Ernährungssystems voran bringt. Das Label hat dabei neben der Wirkung auf Verbraucherverhalten, die sich eher mittel- bis langfristig entwickelt, auch Bedeutung für die Sachlichkeit von Debatten über die Umweltwirkung von Lebensmitteln. Die Label informieren und prägen somit auch die Akzeptanz anderer Maßnahmen und Verhaltensänderungen. Genau wie von Ihnen angesprochen sehen wir eine Rolle beim Staat um Label-Information zu vereinheitlichen und mit großer Marktdurchdringung zu präsentieren. Die Umweltinformation sollten dabei im Interesse der Verbraucher gestaltet sein. Die hohe Varianz der unternehmenspezifischen Standard bei der Informationsdarstellung und Berechnungsgrundlage verwirren eher Verbraucher. Sie leisten kaum einen Beitrag für mehr Transparenz hinsichtlich der externen Kosten.

  • Marcel Kugler sagt:

    Den widerwärtigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit unsagbarem Leid und Zerstörung und drastischen, heute noch nicht absehbaren Folgen für die gesammte Menschheit als Katalysator für die Durchsetzung einer ohnehin in hohem Maße fragwürdigen und ideologisch geprägten Transformation zu missbrauchen, ist Ausdruck einer nahezu hemmungslosen Ideologisierung großer Teile der Agrar- und Ernährungswissenschaften. Die Politk tut gut daran, diesen offenen Brief in Gänze zu ignorieren.

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